Der Redner war wenig über die Mitte der Zwanzig, bartlos, mit blossem Kopf, baumlang — von etwas zu schmalem Wuchs noch für einen Athleten, und doch in jeder Bewegung voll federnder Kraft des Sportplatzes. Vor ihm — unter ihm — standen seine Freunde — ein Dutzend und mehr — junge Gesichter — gebräunt, wie einst vom Schützengraben, so jetzt vom Gletscherbrand des ewigen Schnees, und bald wieder von der Wintersonne über der weissen Skihalde — gebräunt von Wind und Wetter des grünen Rasens und der blauen Wasserfläche . . . Er hob die geballte rechte Faust. Er schrie:
„Wir sind verraten! . . . Zweiundzwanzig Staaten haben seinerzeit der Reihe nach Deutschland den Krieg erklärt — England und Amerika an der Spitze — und ein Haufe Männer und Weiber in Weimar hat es hinterher im Friedensvertrag von Versailles feig und lügnerisch zugegeben, Deutschland hätte der Welt durch seinen Angriff den Krieg aufgezwungen . . .“
Es ging ein erbittertes Murmeln durch die Menge. Die Schutzleute blieben stehen und horchten.
„Unsere Kabel, unsere Kolonien, unsere Schiffe, unseren deutschen Rhein haben sie in Weimar hingeschenkt und abends im Wirtshaus, im ‚Goldenen Schlüssel’, ins Stammbuch geschrieben: „Erst mach’ dein’ Sach’! — dann trink und lach’!’ . . . Unser herrliches Heer haben sie in Weimar für immer zerschlagen, statt es wiederaufzurichten. Vier Jahre haben wir draussen in der Höll’ auf Erden euch deutsche Frauen vor Marokkanern und Kosacken bewahrt! Dafür schmeisst ein Haufe Männer und Weiber in Weimar unsere tapfersten Kameraden dem Feind als Kriegsverbrecher hin, als wären’s alte Haderlumpen . . .“
„Schande! Schande!“ schrie eine wilde Mädchenstimme in der Menge. Die Freundin daneben beschwichtigte:
„Immer machst du bei so ’was den meisten Lärm!“
„Sei still und falt’ die Hände und schau ihn dir lieber an, wie er dasteht . . . So denke ich mir den Siegfried . . .“
„Wegen dem hellblonden Haarschopf . . .?“
„. . . und wegen den blauen Augen . . . und die Gestalt . . .“
„Bravo! Schwärm’ nur gleich drauf los! Wo du ihn ja gar nicht mal kennst!“
„Der ist der Siegfried . . . Der deutsche Siegfried . . .“
„Und wenn einem dann das Blut kocht, dass die Totengräber des Letzten, was wir noch haben — dass die Totengräber der deutschen Ehre ungestraft in Deutschland deutsche Männer zu Sklaven der Feinde machen“ schrie der Jungmann, „dann heisst’s: ‚Geht’s fei’ heim!’ . . . Kruzitürken ja — da fährt der Franzos in voller Uniform bei uns am hellichten Tag in den Strassen umeinander, als ob ihm München schon gehören tät . . . und dort in Norddeutschland — da sitzt unser Führer — unser Vorbild — unser Hauptmann Kettrich seit Monaten von Entente wegen als Kriegsverbrecher im Gefängnis und kommt in nächster Zeit vor Gericht!“
„Is ja aussi . .!“ rief frohlockend eine Stimme aus dem Hutgewühl unten. Der junge Mann oben beugte sich stürmisch vor:
„Was sagen’s — Sie Freunderl da hinten?“
Eine Zeitung flatterte dort triumphierend in hoch erhobener Hand.
„Da . . . in dem Blatt eben steht’s . . . Gestern in aller Früh ist er ausg’witscht . . . der Kettrich . . .“
„Und nicht wieder gefangen?“
„Keine Spur von ihm . . . schreiben’s da . . .!“
„Hurra!“ schrie der Jüngling oben begeistert, mit leuchtenden Augen. „Unser Kettrich frei! . . .“
„Hurra!“ jauchzten die unten um ihn. Ihre Züge waren verklärt. Sie schüttelten sich glückwünschend die Hände. Es lief ein Rauschen durch die Menge. Da und dort ein Freudenausbruch. Lachende Rufe von einem zum andern: „Der Kettrich ist frei! . . . Unser Kettrich frei!“
„Das haben’s fein gemacht — die Kameraden in Norddeutschland . . .“
„Respekt vor die Preussen!“
„Wo haben sie ihn wohl hin?“ murmelte, unterhalb des Redners auf dem Prellstein, einer der jungen Männer dem anderen zu. Und der ihm ebenso leise ins Ohr:
„Ich denk’, sie schaffen ihn erst nach Pommern oder Mecklenburg, weil’s dahin näher ist. Hernach findet sich der Kettrich schon zu, uns hier ’runter . . .“
Der reckenhafte blonde Siegfried auf dem Prellstein wollte wieder reden. Ein Polizist wehrte ihm schonend.
„Sie müssen jetzt still sein. Ansprachen unter freiem Himmel sind nicht erlaubt!“
„Wenn ihr bloss verbieten könnt! Weiter wisst ihr nix! . . . Das nennen’s nachher heutzutag’ die Freiheit — merkt’s fei’, ihr deutschen Männer — ihr deutschen Frauen da um mich her — das nennen’s die Freiheit, dass alles — ausser dem Schieben und den Schiebetänzen — schlechthin verboten ist — im Namen der Freiheit! Für die Freiheit hat unser Kettrich auch schön gedankt! Ist ausgerückt und hat a solchene Freiheit auf die Kirchweih geladen! Unser Kettrich hoch! . . . hoch! . . . hoch!“
„Hoch!“ schrien die begeisterten jungen Männer in der Runde um den Redner und schwenkten die Hüte. Viele aus der Menge riefen mit „hoch!“, ohne zu wissen, wem es galt. Ein alter Hofbräuhäusler, der schnaufend seinen Bierwampen vom Platzl herauftrug, frug seinen Nachbarn:
„Sö — wer is denn nachher der Kettrich?“
„Einer von die Aufrechten — verstengen’s!“
„A sölchene Leut’ brauchen wir!“ keuchte der Dicke. „Hoch der Herr Kettrich! . . . Dös is an Mann!“
„Hoch! . . . hoch!“
„Hoch!“ schrie leidenschaftlich noch hinten, ganz allein, die Mädchenstimme von vorhin. Um sie lachte es. Der zornentbrannte junge Hüne auf dem Prellstein gellte, auf den Schutzmann weisend, der ihn mit sanftem zwang herunternötigen wollte:
„Da schaut’s her! . . . Wenn einer in Deutschland furchtlos die Wahrheit sagt, dann ziehen’s ihn an den Haxen abi in’n Dreck! . . . Sie, Kamerad von der Sipo . . . Sie tragen das Eiserne Kreuz und das Verwundetenzeichen! Wir haben zusammen gekämpft und geblutet — da draussen! Wir alle hier!“
„Schamen’s Ihna net?“ tobte es rings um die Polizei, die nun wieder nachsichtig zögerte. Der Jüngling oben reckte die Hand zum Himmel.
„Deutschland, heilige Mutter — erwachel . . . Deine Söhne sind da . . . Deine treuen Söhne! . . . Es hat noch Mannskerle genug in Deutschland! Wir fegen schon noch den ganzen Saustall aus! Mit eisernem Besen! Wir sind der Kämpferverein: ‚Kette’! Unserm Kettrich zu Ehren heissen wir so! — Und weil die alten Germanen sich in der Schlacht aneinandergekettet haben, um gemeinsam zu siegen und zu sterben! Dös waren die alten Germanen! Wir san die Jungen!“
„Was glauben’s denn? Ich bin auch dabei!“ Unten schwenkte einer begeistert sein Hütel.
„Gut is! Da schaugts: Den Herrn im weissen Haar!“
„Vor uns liegt die Zukunft!“ schrie der Jüngling, immer noch die Rechte feierlich zum Schwur erhoben. „Die Zukunft soll unser sein, sag’ i . . .Wir wollen nicht unser Leben lang kuschen wie die stummen Hunde und von rechts und links, von jedem dreckigen Nachbar, Fusstritte kriegen und noch: Dank schön! dazu sagen, so, wie wir’s jetzt tun! . . . Wir wollen eine neue, stolze, deutsche Zukunft — das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit — in Ewigkeit — Amen!“
Seine Stimme schmetterte über den Platz wie das Trompetensignal zur Attacke. Als ein Echo gelte fanatisch die Mädchenstimme aus der Masse: „Deutschland hoch!“ — „Hoch! . . . hoch! . . .“ Die Männer riefen es. Die Frauen hatten feuchte Augen. Von der Mitte des Platzes warnte ein gutgekleideter Herr:
„Und was Moskau dazu sagt — daran denkt ihr nicht! . . . Die deutsche Mentalität ist international, oder sie ist überhaupt nicht!“
Als die Schutzleute bei ihm ankamen, lag er schon auf den kleinen, spitzen Kieseln des Pflasters und zappelte mit Armen und Beinen um sich. Sie hatten Mühe, ihn, mit zerrissenem Seidenfutter des Mantels, den Fausthieben der Männer, den Schirmschlägen der Damen zu entreissen. „Von deiner Sort’ haben wir schon mehr als einen kalt-g’macht in München, du Bazi!“ tobte es grimmig hinter ihm her. Die Luft über dem Pflaster schien elektrisch zu zittern, wie in unsichtbaren Wellen aus jenen mörderischen Maitagen von 1919, als die Strassen Münchens von dem Blut von vielen hundert Toten dampften.
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