„Der kleine Herr Zippke — der Berliner — mit dem Sie eben gesprochen haben Sie — der hat g’schaut, wie wir ihn gefasst haben! Jetzt — Sie — Sie sind net schlecht gelaufen! Wenn Sie sich net da auf die Bank gesetzt hätten, hätt’ ich Sie net mehr derwischt!“
„Sie haben sich unnötig Mühe gemacht!“ sagte der Flieger kalt. Seinen bartlosen Zügen war keinerlei Erregung anzumerken. „Ich bin nicht Ihr Bartelmann — oder wie das Gewächs heisst . .“
„Also schön — Ihre Ausweispapiere . . . bitte . . .“
Papiere . . . Er griff sich in die Taschen. In alle Taschen des Sonntagsanzugs eines fremden Chauffeurs, den er trug. Die Taschen waren leer. Er sagte sich selbst: So dumm wird der Kerl, der mich umbringen wollte, schon nicht gewesen sein, dass er irgendeinen Ausweis von sich auf meinem Leib gelassen hätte — als Fingerzeig für die Polizei, die im Steinbruch das zertrümmerte Auto, mit falscher Nummer, und darunter meine Leiche fand! Er suchte noch einmal: Nichts . . . nichts . . . .
„Also irgendeine Legitimation haben’s nicht bei sich?“
„Zufällig — nein!“
„Und wie wollen’s nachher heissen? Wer sind’s denn?“
„Darüber kann ich hier und Ihnen keine Auskunft geben!“
„Jetzt weiss ich schon Bescheid! Kommen’s . . . Jetzt machen wir ’nen Spaziergang nach dem Augustinerstock . . . Schauen’s bloss net so gefährlich drein . . .“
„Sie dürfen mich nicht verhaften . . . Sie wissen nicht, was auf dem Spiel steht . . .“
„Dös san Sprüch’!“
„Es handelt sich um das Leben von deutschen Männern.“
„Wenn Sie sich doch noch ausweisen können — oder Sie finden angesehene Leuť in München, die für Sie gutsagen — ja — heuť ist freilich Sonntag — aber trotzdem — auf den Nachmittag — allerhöchstens am Abend sind’s wieder frei . . .“
„Mensch . . . Dann ist es zu spät . . .“
„Aber Sie sind ja der Baron Bartelmann — das wissen’s ja eh . . . Die Beschreibung stimmt aufs Tüpferl . . . Also kommen’s . . .“
Der ihm gegenüber überlegte im Bruchteil einer Sekunde: Er hatte den Browning in der Tasche. Wenn er ihn rasch herausriss — er wollte dem Beamten vor ihm nichts zu leid tun — nur ihm die Pistole, die jener vermutlich gleichzeitig zum Vorschein zu bringen suchte, mit einem schnellen Griff der Linken entreissen — ihn mit der Waffe im Schach halten — flüchten — in langen Sprüngen . . . vielleicht gelang es! Es musste gelingen! Es war vielleicht die letzte Rettung für die Freunde . . . Hier ganz in der Nähe . . . in München . . . . .
Et senkte die Hand in die Tasche, als suche er noch einmal nach einem Ausweis. Ein rascher, heimlicher Fingerdruck gegen den Sicherungshebel. Er fühlte sich plötzlich von hinten an beiden Armen, rechts und links, von je zwei Fäusten gepackt. Zwei Fremdenkontrolle-Beamte standen da und hielten ihn fest, und der dritte, der Schnurrbärtige, vor ihm sagte:
„Sie! . . . Machen’s kei’ Geschichten, Herr Baron! . . . Drei Männer sind stärker wie einer! Und Sie halten sich ja eh kaum auf den Beinen! Also — jetzt gehn wir alle z’samm’ halt aufs Polizeipräsidium!“
Die breite Maximilianstrasse in München war an diesem a herbstlichen Sonntagvormittag, ein paar Stunden später, ein schwarzes, wogendes Meer von Menschenköpfen. Ein Brausen, ein Pfeifen, ein hundertstimmiges Schreien vor der schweigenden hohen Front des Hotels, wo die Kontrollausschüsse der Entente ihren Sitz aufgeschlagen hatten. Grüne Polizei stürmte über den Platz vor dem Nationaltheater heran, galoppierte von der Isar her über den Asphalt. Versuchte — eine Handvoll — sich durch das Gewimmel hindurchzuarbeiten — nach dem Mittelpunkt der Gefahr, dort mitten auf der Strasse, um den Köpfe, Hände, Stöcke, Damenschirme drohend, tobend strudelten — nach den beiden goldgeränderten roten Käppis über der zornbewegten Menge.
Die beiden französischen Offiziere sassen mit kalten und höhnischen, aber bleichen Gesichtern in dem offenen, feldgrauen Entente-Auto, das eingekeilt in den Massen stillstand. Münchener Bürger, ältere Männer, bildeten eine freiwillige Schutzwehr um den Wagen, suchten den wütenden Bienenschwarm umher zu beruhigen: „Was habt’s denn davon, wann ihr die schon totschlagt? . . . Sölchene hamm’s in Paris gnua!“
„Wir lassen uns nicht mehr ausspionieren!“
„Die haben net mehr in den Fabriken umeinanderzukriechen!“
„Die haben nix mehr in den Kasernen zu suchen — die Saukerle!“
„Wir sind ein freies Volk!“ schrie eine vor Erregung zitternde, helle Mädchenstimme.
„Ne bougez pas!“ murmelte warnend ein bärtiger Herr mit goldener Brille über den Wagenschlag den beiden Welschen zu, die sich auch wirklich nicht rührten, sondern wie gelbliche, bunt uniformierte Wachsfiguren dasassen und starr vor sich hinsahen. Ein Alt-Münchener neben ihm keuchte im Gedräng und den Rippenstössen der Anstürmenden: „Sie — Herr Nachbar: Sagen’s den beiden Hanswurschten da drinnen, sie sollen net so an höhnisches G’friess herweisen — sonst steh’ ich für nix mehr . . . Hopla — Sie — dös war mei’ Bauch — tun’s doch Ihren Stock eini, mei’ Liaber!“ Er verstärkte seine Stimme: „Leut’! Seid’s doch stad’! Die beiden z’wideren Kerle da im Wagen können ja nix dafür! Die tun halt ihre Pflicht!“
„Schmeisst sie in die Isar — die g’selchten Affen — die g’selchten!“ riet von hinten eine Donnerstimme. Aber nun teilten Pferdeköpfe und Tschakos die Menge. Erreichten den Wagen. Er setzte sich langsam, von Berittenen geführt, umgeben, beschlossen, in Bewegung. Gewann die schützende Einfahrt. Die beiden roten Käppis verschwanden im Dunkel der Torwölbung.
Der Sturm auf der Strasse ebbte. Löste sich in ein Gewimmel einzelner erreger Gruppen, wie schwerer Wogenschlag der toten See unter dem Meeresspiegel. Nun hob die helle Frauenstimme von vorhin an — mitten auf der Strasse — mit einem ungeschulten, aber leidenschaftlich durchdringenden Sopran:
„Deutschland — Deutschland über alles —
Über alles in der Welt . . .“
Hunderte von Hüten lüfteten sich von den Häuptern, Hunderte von Stimmen brausten zu den Fenstern der Entente empor.
„Von der Maas bis an die Memel,
Von der Etsch bis an den Belt . . .“
Der Gesang verstärkte sich. Schwoll zu einem gläubigen Gebet der Massen und verklang:
„Deutschland — Deutschland über alles —
Über alles in der Welt!“
„So! Und jetzt, mein’ ich — jetzt geh’n wir miteinand’ nach Haus“, sagte ein gemütlicher Wachtmeister, der frischweg mitgesungen hatte. Es schien, als sollte sich nun alles, gemäss dem jähen Stimmungswechsel der bald unheimlich fiebernden, bald träge träumenden Isarstadt, in sonntägliches Wohlgefallen auflösen. Da gellte, von dem Prellstein an der Strasseneke herab, eine helle Jünglingsstimme leidenschaftlich über den Platz:
„Nach Haus! . . . Wenn ihr Kaschperle uns nur immer wieder nach Haus schicken könnt! Was G’scheiteres fällt keinem mehr in Deutschland ein! Habt ihr uns im heiligen August vierzehn auch gesagt: Bleibt’s zu Haus!? . . . Da haben wir hinausdürfen . . . Wir alle hier . . . Vier Jahre sind wir nicht nach Haus gegangen, bis wir nimmer konnten . . . .“
Die Menschen strömten in der Richtung nach dem Prellstein und drängten sich. Polizisten arbeiteten sich durch die Menge. Der junge Mann über ihr breitete fanatisch die Arme aus. Seine Stimme füllte mühelos den weiten Platz.
„Der Schützengraben war unsere Heimat! Der Granatentrichter war unser Vaterhaus! Der Sternenhimmel war unser Dach! Wir haben Deutschland die Treue gehalten! Wir sind mit stolzem Haupt heimgekehrt! Wir wollen nicht hinterher dem Saupack von Franzosen die Schuhputzer machen! . . .“
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