Der blonde Siegsried ging inmitten seiner Freunde, sie um Kopfeslänge überragend, mit den langen, federnden Schritten des Sportplatzes durch das friedliche, halb stehende, halb bummelnde Gedränge. Ein paar Krankenschwestern, mit dem Hakenkreuz als Brosche, schauten ihm verklärt nach. Das Hakenkreuz war überall. In den Knopflöchern der Herren. An den Hüten. Das Hakenkreuz als Krawattennadel. Das Hakenkreuz als Damenarmband. Das Hakenkreuz an der Mauer. Das Hakenkreuz als einendes Kabbalazeichen über diesem, dutzendfach in einzelne Parteien und Richtungen gegliederten nationalen Aufmarsch der blau-weissen und schwarz-weiss-roten Sehnsucht, in dem jeder wusste, wer der andere war — ihm über die Köpfe weg zuwinkte — ihn beobachtete . . .
Den hünenhaften Jungmann mit seiner wettergebräunten Gefolgschaft kannte die ganze junge Männerwelt auf dem Platz. „Da geh’ her, Hansei!“ rief es und ein strahlendes Gesicht mit einem vernarbten Granatenriss am Kinn raunte: „Du — der Kettrich is frei!“
„Pscht! Mühlberger!“ Von der anderen Seite kam einer und hakte sich in seinen Arm. „Jetzt hab’ ich eine schöne Post für dich: Unserm Kettrich ist’s zu fad geworden! Er hat sich bei den Hanswurschten da oben gedrückt!“
„I weiss doch schon!“ sagte Hans Mühlberger und lachte glückselig. Überall über den Platz hin summte der Name: Kettrich! . . . Kettrich . .!! Ein geheimnisvolles, vielsagendes Zunicken von einem Häuflein zum andern — unterdrückter Jubel auf jugendlichen Zügen — ein bisschen Schadenfreude über den Norden — bedenkliche Bureaukratengesichter . . . Das Wispern eines vergnügten, rosigen Münchener Kindls: „Da wer’n sich die Preissen gift’n!“
„Die Preissen hab’n ihn ja selber befreit!“ belehrte die andere junge Münchnerin. „Es hat solchene Preissen und solchene!“
„Wo sind’s denn hin mit ihm?“
„Das werden’s gerad’ hier ausschellen lassen!“
Hans Mühlberger stand mit den Seinen mitten auf dem Platz. Er hatte jetzt, wo er lachte und nach allen Seiten Hände schüttelte, etwas von einem grossen, guten Jungen an sich.
„Wenn man bloss ’was Näheres erfahren tät, wie’s mit dem Kettrich seiner Flucht gewesen ist!“ sagte er aufgeregt.
„Ihr Bub’n . . I bin ja rein närrisch vor Freud’! I möcht’ glei’ zu schuhplatteln anfangen — gerad’ vor die gichtbeinigen Exzellenzherren dahinten . . .“
„Ja. Mehr vom Kettrich steht in der Zeitung net! . . . Bloss — ’n Steckbrief haben’s da im Norden schon erlassen — heisst’s — und a hohe Belohnung, wer ihn fängt — mehr als wie für a Schock Lustmörder beisammen!“
„Pfui Teifi! Da möcht’ man ausspuck’n!“
„Das weiss ich —“ sagte Hans Mühlberger. „Das weiss ich wie’s Evangelium: Sobald der Kettrich kann, da gibt er mir Nachricht hierher — gerad’ mir! . . . Ich bin sein Treuester von den Treuen! Wir haben’s gemacht wie die alten Deutschen: Wir haben uns in den Arm geschnitten und haben’s fei’ ins Glas tropfen lassen und in rotem Tiroler dann Blutbrüderschaft getrunken. Wann mir der Kettrich jetzt sagt: ‚Hans! Spring vom Rathausturm ’runter!’ — ich tu’s!“
„Das weiss a jeder, dass du ihm blind ergeben bist!“
„Und dös war die ganze Zeit mein Herzweh, dass wir das Befreiungswerk haben denen im Norden überlassen müssen, weil wir z’wenig Verbindungen haben . . . da oben . . . Na — Hauptsach’, dass er frei is! . . . Rulemann — was gibt’s?“
Der vierschrötige westfälische Werkstudent zog den baumlangen, jungen Bajuvaren beiseite.
„Siehst du den schnurrbärtigen, grossen Herrn, der da drüben bei dem Leichsenring und seinen Leuten s—teht?“
„I kenn’ ihn net!“
„Sehr vers—tändlich! Denn er s—tammt aus Norddeutschland. Es ist ein Major a. D. von Goddentow. Er ist vorhin mit dem zweiten Berliner Nachtschnellzug angekommen!“
„. . . und weiss was vom Kettrich?“
„Er hatte selber die Hand mit im S—piel! Komm schnell hin zu ihm!“
Sie bummelten harmlos durch das Gewühl. Ringsum plauderte und scherzte es. Die Musik spielte den Fledermaus-Walzer. Die Herbstsonne schien hell. Der Himmel war blau. Rosige Mädchengesichter lachten. Die Hakenkreuze blinkten. Der Boden schien leise zu beben. Es zitterte etwas Unsichtbares in der Luft . . . . . .
Jenseits der Stelle, wo beim Sturz der Räterepublik das Münchener Volk den bolschewistischen, riesigen Matrosenhäuptling und ein paar seiner Sowjetrussen als Rache für die Ermordung der Geiseln erschlagen hatte — da, wo es schon menschenleer war, stand der Kampfbund Leichsenring um den Gesinnungsgenossen aus Norddeutschland. Der Major von Goddentow berichtete, während die beiden herantraten, raunend und etwas sorgenvoll:
„Tja — die Sache hat ja geklappt — aber eine Patentlösung wurde es nicht! Irgendwo da oben bei uns, in unseren Reihen, steckt Verrat! . . . Wir merken’s immer wieder und suchen und finden’s nicht . . .“
„Dös is doch überall dieselbige Sauerei!“
„Die Flucht Kettrichs wurde ganz offenbar verraten. Zum Glück im allerletzten Augenblick! Es handelte sich buchstäblich um Minuten! Als die Wächter in die Zelle stürzten, hatte der gute Kettrich eben abgebaut . . .“
„Glück muss der Mensch haben!“
„. . . Nu noch der höllische Dusel, dass sie vor unserem Automobil einen harmlosen Spiesser abklappten, der blind wie ein Karnickel darauf zulief. Ich hatte genau noch währenddessen Zeit, mich meinerseits zu salvieren und vom Chauffeursitz zu verschwinden! Einen Augenblick habe ich deutlich, auf der anderen Seite vom Platz, in der dunklen Gasse den Kettrich gesehen — in seinem langen, weissen Gefängniskittel!“
„Gottlob! Dös gibt einem wieder an Schwung!“
„. . . bis sie nun merkten, dass sie da einen unglücklichen Reiseonkel an Stelle vom Kettrich erwischt hatten — da hat der ja ’nen kleinen Vorsprung gewonnen! Aber trotzdem: wir sind in grösster Unruhe! . . . Auch wenn man ein Kettrich ist — aber ohne einen Groschen Geld — in Sträflingskleidung — mit Pantoffeln an den Füssen — wie weit kommt denn da der Mensch?“
„Ui Sakra ja!“
„Da habe ich gedacht: ‚Vielleicht wissen die Herren in München etwas!’ — und hab’ mich auf die Bahn gesetzt und bin hierher!“
„Nix wissen wir!“ sprach Hans Mühlberger und nagte an der Unterlippe. Seine Augen gingen gedankenverloren über den von der Herbstsonne vergoldeten, menschenwimmelnden, musiküberfluteten Platz. Dort, zwischen den anderen Leuten, stand das junge Mädchen von vorhin, das durchaus auch hatte aufgeschrieben werden wollen. Sie schaute herüber. Er war schon gewohnt, dass ihn die jungen Mädchen anstarrten. Junge Frauen auch. Ihr Name, den sie vorhin der Polizei genannt, ging ihm, in der Geistesabwesenheit, durch den Kopf: Almuth Römer . . . Er sah zerstreut unter dem Schleier das weiche, junge, runde Kindergesicht — die dunklen, sanften, eigensinnigen Augen. Er sah ihr bescheidenes, dunkles Kleid im Wind um die zarte, magere Gestalt flattern, und beachtete es nicht und wendete seinen blossen blonden Haarschopf zur Seite und sagte:
„Sie nennen mich den Freund von unserem Kettrich, Herr Major! . . . Wissen’s: das is für mich zu viel Ehre! Der Kettrich und ich sind freilich Freunde! Aber ’s is halt doch ’was anderes . . . vom Kettrich geht ’was aus . . . auf einen . . . Ja — das lässt sich net so beschreiben! . . . Und kurz und gut: I geh’ eben für den Kettrich durchs Feuer.“
„Und sell bawwelt er net bloss so hin!“ bestätigte Louis Leichsenring, der Rheinpfälzer. „Sell hat er im Krieg mehr wie einmal bewiese!“
Das junge Mädchen stand drüben und schaute immer wieder einmal in einer stillen, leidenschaftlichen Versunkenheit zu dem Hans Mühlberger hinüber. In ihrem unscheinbaren Mäntelchen und Rock hob sie sich wenig aus der Menge ab. Nicht weit von ihr leuchtete es farbenfreudig in grüngesticktem grauem Loden und gemsledernen kurzen Hosen, blossen, braunen Knien, gesticktem Ledergürtel unter bunter, von Silbertalern klirrender Weste, rosa Halstuch, wehendem weissem Adlerflaum auf keckem Hütl. Jetzt, wo nach altem Brauch das Oktoberfest auf der Theresienwiese draussen begonnen hatte, waren immer viele Tausende von Bauern, zumal Sonntags, in der Stadt. Der junge Bursche, der diese Pracht des bayrischen Hochlandes trug, war klein von Wuchs und ein wenig säbelbeinig. Er hatte ein offenes, freundliches, blasses Gesicht mit einem kleinen blonden Schnurrbart. Er ging unsicher, zögernd, ein an die Einsamkeit seiner Berge gewöhnter Älpler, unter dem Stadtvolk herum. Näherte sich, wie durch Zufall, bis auf einige Entfernung, der Gruppe um den Major von Goddentow. Blieb, die Hände im Gurt, müssig stehen.
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