Er blickte nach vorn in die Weite und lachte — zum erstenmal seit Monaten überzog das alte, verwegene, siegestrotzige Lachen des Kampffliegers sein bartloses, von der Gefängnishaft bleiches Gesicht. Fern — geisterhaft hob sich in der grauen Morgenluft ein Zwillingspaar von Türmen mit stumpfen Hauben aus einem undeutlichen Nebelmeer . . . die Frauentürme grüssten — das Wahrzeichen Münchens . . . München . . . Da war München . . . . . .
Er steuerte darauf zu. Nahe vor der, einsam im Feld stehenden Tafel: ‚Burgfrieden der Stadt München’ machte er halt. Es lag da am Weg, ein windschiefes, baufälliges, hölzernes Stade! — eine leere Scheune — während des Krieges unbenutzt und zerfallen, der Dachplatten beraubt, dass der Herbsthimmel durch die Sparren lugte. Das Tor hing noch halbwegs in den Angeln. Er drückte es auf und lenkte das Auto vorsichtig hinein und legte wieder den Holzriegel vor das Tor. Aus dem, auch jetzt im Herbst, noch feuchten Moorboden der Zufahrt quoll das Wasser und bedeckte die gegitterten Eindrücke der Gummiräder. Es vergingen jedenfalls Stunden, ehe man, durch Zufall, die Limousine da drinnen fand — oder Tage — vielleicht hier in der Einsamkeit, Wochen und Monate . . . . . . . . . . . .
Bisher war die Strasse um ihn leer gewesen. Jetzt rollte ein Milchwägelchen um die Waldecke, die Kannen hinten, ein Köter nebenher. Der Kutscher nahm den Mann am Weg gutmütig mit nach München. Da war schon Schwabing. Sie fuhren durch das Siegestor. Die Ludwigstrasse entlang. Am Odeonsplatz dankte der Fahrgast, schüttelte dem rosigen jungen Milchmann die Hand und sprang ab. Über ihm, in den Lüften, dröhnten die Glocken der Theatinerkirche. Er entsann sich, dass heute Sonntag sein musste. Um ihn strömte es auf dem Platz von Andächtigen auf dem Weg zur Messe. Er hatte Sorge vor zu viel Menschenaugen. Er ging eilig durch das Taubengeflatter des Pflasters hinüber nach dem noch ganz leeren Hofgarten, von wo man seitlich, hinter der Residenz herum, unbeachtet auf einem Umweg das mittelalterliche Gassengewirr des ältesten München erreichen konnte. Unter der Torwölbung der Arkaden hörte er hinter sich rufen:
„Baron!. . . Baron!“
Er achtete nicht darauf. Er schritt eilig weiter. Er war kein Baron. Er konnte den Anruf nicht auf sich beziehen. Aber da vernahm er ganz nahe im Rücken eine scherzhafte Fistelstimme:
„Na . . . Barönchen! . . Baron Bartelmann . . . laufen Sie doch nicht so!“
Es schlug ihm jemand freundschaftlich auf die Schulter. Er drehte sich um und sah einen kleinen, dicken Herrn mit einem faden, runden Kladderadatsch-Gesicht und einem ebenso runden Einglas darin, streng nach englischer Mode gekleidet, dazu kokett ein bayrisches Hütl mit grünem Band und Gamsbart auf dem Kopf.
„Na — haben Sie heute nacht auch noch weiter geschwiemelt, oller Kronensohn?“ schäkerte der Dickling. „Auf einmal waren Sie weg! Sie verschwinden immer so geheimnisvoll . .“
Der andere sah ihn schweigend und finster an.
„Da bin ich ’ne andere Nummer! Ich hab’ mir den Konaki, den faulen Kopp, noch ’mal ins Gebet genommen, dass wir die Perser Teppiche endlich über die Grenze kriegen! . . . Im Beisein von Aristides Dukas . . .“
„So . . .“
„Der olle Devisen-Fritze ist ja ooch mit äusserster Vorsicht zu geniessen! . . . Na — wir sind die alte Garde — was . . .Baron . .? Uns kann keiner . . . Sagen Sie ’mal: Apropos: Kennen Sie mit Ihren ausgezeichneten, westöstlichen Verbindungen — west-östlich ist jut — was? — kennen Sie einen Diamantenaufkäufer Parisell? Ist der Mann seriös? Ich glaube, ’s ist ’n Lümpchen! Ich frühstücke nachher mit ihm!“
„Ich kenne weder Sie noch diesen Menschen!“
„Nanu — Spass . . . Ihr Kater ist, scheint’s, nicht von schlechten Eltern, lieber Bartelmann!“
„Ich bin nicht der Baron Bartelmann . . .“
„Ja — wer denn?“
Der andere hemmte auf den Lippen die zu schnelle Antwort: „Mein Bruder ist’s!. . . Mein Bruder — wieder in einer anderen seiner vielen Gestalten — lichtscheu mitten in einem Rattenkönig von Balkanschiebern und Berliner Raffkes — zusammen mit diesem Burschen da die Seele irgendeines Schlawiner-Klüngels . . . . .
Also es ist wahr: Er ist in München! . . . Er geht hier umher! . . . Und seine eigentliche Beute hier — das sind nicht Teppiche, nicht Diamanten und Devisen — diese Geschäfte macht er nur nebenbei — sein Edelwild sind Menschen, sind meine Freunde — meine ahnungslosen Freunde hier in München . . . . .
„Sie sind so komisch heute, Baron!“ Das dicke Kerlchen vor ihm blinzelte ihn kurzsichtig an. Er reichte ihm die Hand.
„Also nehmen wir an, ich bin der Baron Bartelmann!“ sagte er. „Aber nun entschuldigen Sie mich, bitte! . . . Ich habe dringende Geschäfte!“
Er liess den verblüfften kleinen Schieber stehen. Er eilte mit langen Schritten durch den menschenleeren Hofgarten. Er ging auf dem knirschenden Kies an dem Musik-Kiost vorbei. Er setzte die Füsse allmählich langsamer, schleppender. Es waren jetzt mehr als vierundzwanzig Stunden vergangen, seitdem er sich durch das Zellenfenster gezwängt. Diese ganze Zeit hatte er sich, mit Ausnahme der Viertelstunde Schlaf am Abend, aufrechtgehalten. Nun, ohne die belebenden Luftwirbel der Fahrt — im plötzlichen Lärm und Leben der Stadt nach der Einsamkeit des Gefängnisses —, in der ungewohnten Anstrengung des Gehens —, nun kroch ihm unversehens, bleiern die Ermattung von den schwer gewordenen Füssen in die Knie — legte sich ihm um das Herz. Er fand keinen Atem mehr. Auf der letzten Bank, am anderen Ende des Hofgartens, setzte er sich für einen Augenblick hin, schöpfte tief Luft; schaute leer den Spatzen zu, die am Boden zirpten. Es summte ihm in den Ohren. Schwarze Pünktchen tanzten ihm vor den Augen. Dann fühlte er seine Kräfte wiederkehren. Wollte aufstehen und weitergehen in die schützende Altstadt, nahe da drüben.
„Grüss’ Gott, Herr Nachbar!“ sagte plötzlich ein freundlicher, schnurrbärtiger Mann. Er hatte sich neben ihn auf die Bank gesetzt, obwohl ringsum Platz genug war. Aber das fiel in dem gemütlichen München nicht auf.
„Guten Morgen!“ erwiderte der Flüchtling und knöpfte, noch im Sitzen, seinen Mantel zu. Der andere blickte ihm treuherzig, aber merkwürdig forschend ins Gesicht, so, als wollte er sich seine Züge einprägen . . . oder in die Erinnerung rufen . . . oder mit einem Bild vergleichen . . . . . . .
Es wurde dem Entsprungenen unbehaglich. Er erhob sich schnell, griff an den Hutrand und wollte gehen. Der schnurrbärtige Mann meinte phlegmatisch, ohne den Blick von ihm zu wenden:
„Sie . . . bleiben’s doch noch! Gerad’ ’nen Moment! Gelt — sein’s so gut . . .!“
„Ich hab’ wirklich keine Zeit! Adieul“
„Ich darf schon bitten . . . Ich hab’s auch schon . . . also so früh schon auf, Herr Baron!“
„Herrgottdonnerwetter — ich bin kein Baron!“
„Na — na — na . . . Baron ist doch kein Schimpfwort net! Sie sind doch der Baron Bartelmann!“
„Nein . . . zum Kuckuck!“
„. . . und sind jetzt halt zeitig geworden! . . . Da können’s nix machen!“
„Treten Sie mir nicht in den Weg! Sonst werd’ ich unangenehm, alter Freund!“
Das schmunzelnde schnurrbärtige Gesicht drüben wandelte sich in die dienstlich strengen Züge eines ehemaligen Unteroffiziers. Ein Papier in seiner Hand. Die Sprache knapp und bestimmt.
„Hier mein Ausweis: Fremdenkontrolle München! . . . Sie! . . . Auf die Schieber sind wir in München scharf! Mit die Galizier und Schlawiner machen wir hier kurzen Prozess! Den Herrn Konaki haben wir noch heut’ nacht festgekriegt . . . und den Herrn Parisell vorhin aus dem Bett geholt, ehe er seine Diamanten hat verschlucken können . . .“
„Was gehen mich die Kerle an!“
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