Sie hob die Hand, um sie noch ein Stückchen vorwärtszubewegen. Doch plötzlich packte er ihr Handgelenk. Der Schrei blieb ihr im Hals stecken. Sie wollte sich losreißen, aber alles hatte sie im Stich gelassen. Die Instinkte. Der Körper. Die Gedanken.
Seine Hand war groß und stark. Blass, fast weiß auf ihrer Haut. Und die Finger … Die kannte sie nur allzu gut. Klauen, von denen sie gehofft hatte, sie würde sie nie wieder sehen.
Er war ein Blinder. Nábyrn. Ein Totgeborener.
Hier. In der Welt der Menschen.
Sie ließ das Kämpfen, stellte das Denken ein. Wenn sie sich bewegte, würde die Wirklichkeit zerspringen wie Glas. Die Angst steckte ihr wie ein kalter Pfahl im Körper. Ohne den sie zusammenbrechen würde.
Er stemmte sich hoch, schaffte es mit Mühe und Not, den Oberkörper vom Boden zu hieven. Er stützte sich mit dem Arm ab. Starrte sie aus weißen, blinden Augen an.
»Kroyo ozá désel?« Das klang wie ein Geräusch aus Draumheim. Eine heisere Stimme, die es nicht geben durfte.
»Kroyo ozá désel?«, wiederholte er und es gab keinen Zweifel, dass er sie direkt ansah, egal, ob er blind war oder nicht. Hirka hob die Hand und legte sich zwei zitternde Finger an den Hals, ohne den geringsten Schimmer zu haben, woher dieser Instinkt kam.
Er knurrte wie ein Tier und brach wieder auf dem Boden zusammen.
Was tust du hier? Lauf! Mach, dass du von hier wegkommst!
Hirka war nicht in der Lage, ihre eigenen Ratschläge zu befolgen. Sie starrte den Totgeborenen an. Sein Körper bestand aus Muskeln und kaum etwas anderem. Sie waren wie aus der blassen Haut gemeißelt. Er sah stark und zugleich ausgehungert aus. Jeder Atemzug bereitete ihm offenbar Schmerzen. Der Körper zuckte wie in Krämpfen. Die Muskeln wölbten sich über der Brust, die sich bis zum Bauch fortsetzten und weiter bis hinunter zu … Hirka bekam heiße Wangen. Er war bis da unten haarlos. Und gut ausgestattet.
Das Wesen hatte die Augen geschlossen. Sie vermutete, dass er versuchte, Kräfte zu sammeln. Er war sehr geschwächt. Vielleicht todkrank. Sie guckte zur Tür. Er würde sie nicht aufhalten, wenn sie losrannte. Sie war frei. Sie konnte abhauen. Wenn er sich erst einmal erholte, wäre es zu spät. Er war ein Blinder. Sie hatte gesehen, wozu die imstande waren. Sie erinnerte sich an den Mann, der bei Ravnhov getötet worden war. An seine leeren Augen … Dieses Wesen war der Tod. Ein wildes Tier. Gefährlich. Fremd.
Plötzlich wurde ihr klar, dass man dasselbe auch über sie gesagt hatte. Oft. Die Erinnerungen, die zu vergessen sie sich abgemüht hatte, drängten hervor. Stahlhandschuhe auf der Haut. Schwert am Rücken. Sie war selbst kraftlos gewesen. Außer sich vor Angst. Sogar blind, mit einer Binde vor den Augen. Kniend auf hartem Boden. Untier. Odinskind. Fäulnis.
Von dem Vergleich wurde ihr schlecht. Es schien ihr die Kraft zum Gehen zu rauben. Hinderte sie daran, ihn zu verlassen. Verlassen … Kuro?
War das hier Kuro? Nein. Wie konnte er das sein? Überall auf dem Steinboden war Rabenblut verschmiert. Es sah in der Dunkelheit schwarz aus. Kuro war in Stücke gerissen worden, um … diesem Dingsda das Leben zu schenken. Sie hatte ihn im Stich gelassen. Sie hatte ihren eigenen Raben nicht retten können, sie, die sie eine Heilerin war. Sie, die sie …
Hirka schloss die Augen. Erschöpft von der Erkenntnis. Sie war Heilerin. Das heilkundige Mädchen. Und das Wesen auf dem Boden lag im Sterben. Sie hatte keine Wahl.
Sie hatte noch ein Bund Immerkraut übrig. Den letzten Tee aus Himlifall. Wenn sie den nicht mehr hatte, war sie hilflos. Nicht mehr in der Lage, auch nur Schmerzen zu lindern. Sollte das letzte Leben, das sie rettete, ein Totgeborener sein? Der sie in Stücke reißen würde, sobald er einen Arm heben konnte?
Noch hat er dich nicht verletzt.
Sie versuchte, ihn mit anderen Augen zu sehen. Wenn er doch nur … etwas weniger Mann gewesen wäre. Aber er war so offensichtlich stark. Gefährlich. Rohe Gewalt. Vater hätte ihr zur Flucht geraten. Rime hätte ihn schon längst getötet. Das wusste sie. Aber für die beiden war es etwas anderes. Sie hatten immer eine Wahl gehabt. Bei ihr war das nicht so. Ein Leben war immerhin ein Leben. Ihn sterben zu lassen, war genauso Selbstmord, wie ihn zu retten. Sie musste ihr Bestmögliches tun. Es war nicht ihre Aufgabe, zu entscheiden, wer leben durfte und wer nicht. Das war es nie gewesen.
Sie war Heilerin. Das Sortieren sollten sie im Draumheim übernehmen.
Sie holte die Schachtel aus dem Beutel. Sie war aus Rinde gemacht und kleiner als ihre Hand. Darin lag das Wertvollste, das sie besaß. Sie stand auf und zog den feuchten Regenponcho aus, stopfte ihn in den Beutel, während sie die Schachtel in der Hand festhielt. Woher sollte sie heißes Wasser bekommen? Der Tee brauchte Wärme, sonst würde er nicht das abgeben, was der da brauchte. Hier gab es keine Feuerstelle und sie konnte hier auch nichts verbrennen. Der Blinde stöhnte. Sein Körper wand sich in neuen Krämpfen. Er spuckte Blut. Er würde sterben.
Der Ventilator. Ventilatoren werden heiß.
Da hatte sie hier immerhin etwas gelernt.
Sie goss Wasser aus dem Wasserbeutel in die Tasse. Ihre Finger zitterten nicht mehr. Die neue Entschlossenheit hatte ihr die Ruhe wiedergegeben. Sie kletterte auf einen Hocker und stellte die Tasse oben auf den Ventilator. Dadurch dröhnte er etwas tiefer. Sie öffnete die kleine Schachtel mit den Teeblättern, während sie wartete. Die Blätter waren perfekt getrocknet. Sie waren nicht ganz schwarz, sondern dunkelbraun. Die würden ihm helfen. So wie sie unzähligen anderen geholfen hatten.
Sie roch an ihnen. Der Duft von Ymsland versetzte ihr einen Stich in die Brust. Das Heimweh kam. Das Gefühl, das sie bekämpft hatte, tauchte auf. Reue. Grausam. Es verseuchte sie. Wie eine Ertrunkene. Sie bereute so sehr, dass es brannte. Warum war sie weggegangen? Und was, wenn die Blinden jeden Ymling in Mannfalla töteten? Sie war ihnen nichts schuldig! Sie hätte alles dafür gegeben, um wieder mit Rime im Steinkreis zu stehen. Seine Arme um ihren Körper zu spüren und zu sagen, dass sie Ymsland nie verlassen würde. Dass sie dort, bei ihm, bleiben wollte. Für immer.
Bis er dein wurde und verfaulte?
Der Blinde gab ein Stöhnen von sich. Hirka holte die Tasse vom Ventilator. Das Wasser war nicht so heiß, wie es eigentlich sein sollte. Aber es musste so gehen. Sie gab die Teeblätter in die Tasse. Sie entfalteten sich. Der Duft versprach Leben. Sie trug die Tasse in beiden Händen. Durfte sie nicht fallen lassen. Dann kniete sie sich neben den Totgeborenen. Stellte die Tasse auf einer der Steinplatten ab, mit denen der Boden gepflastert war, etwas von ihm entfernt, falls er wieder Krämpfe bekam. Sie schob ihm die Hände unter den Kopf. Er war kalt. Sein Haar war lang und vom Rabenblut verklebt.
Kuro …
Er öffnete die Augen. Hirka schauderte. Suchte in dem Weißen, um etwas zu finden, woran sie den Blick heften konnte, fand aber nichts. Er stützte sich auf die Ellenbogen. Die Kiefer spannten sich an, als versuchte er zu verbergen, wie viel Anstrengung ihn das kostete. Genauso hätte Rime es gemacht.
Es gelang ihm, sich halb hochzuhieven, ehe er ihr in die Arme fiel. Sie hielt ihm eine Hand unters Kinn und hob die Tasse. Er streckte den Hals danach. Er verstand. Sie wagte es nicht, ihn die Tasse selbst halten zu lassen, sondern führte sie an seine Lippen, die bläulich waren.
»Ich habe nur eine halbe Tasse«, sagte sie und versuchte zu lachen. Er reagierte nicht. Sie drehte die Tasse, damit er sehen konnte, dass sie so geformt war, als sei es nur die Hälfte einer Tasse. »Eine halbe Tasse. Verstehst du?«
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