Graal seufzte. »Sie hat sie entdeckt, Isac.«
»Niemals. Sie ist ein Teenager, die kriegen doch einen Scheiß mit. Und auf diese Sache sind gute Leute angesetzt, nur die besten. Die oberste Liga.« Isac formte mit Daumen und Zeigefinger eine Geste, als spreche er über ein vorzügliches Gericht.
Graal hatte den Geschmack seiner eigenen Wut im Mund. Stechen wie von Stahlsplittern auf der Zunge. Blut, das kochte. Fehler konnte er sich nicht leisten und er war umgeben von Menschen. Von Menschen, denen die Voraussetzungen fehlten, zu verstehen, und die sie auch nie haben würden. Sie lebten schlicht und einfach nicht lange genug. Menschen machten Fehler. Das lag in ihrer Natur.
»Komm her, Isac.«
Isac sackte dort, wo er saß, zusammen. Die Eiswürfel begannen im Glas zu klirren. Das war der Vorteil, wenn man wahre Macht besaß. Man brauchte sie nie auszuüben. Oder sie zu demonstrieren. Sie war immer gegenwärtig. Wie ein Teil von einem selbst.
Isac stand auf und kam zum Fenster. Er blieb ein Stück entfernt davon stehen und hütete sich davor, hinauszugucken. Stattdessen starrte er Graal an, als sei er eine Rettungsboje in stürmischer See.
»Isac, ist es mir nicht gelungen zu vermitteln, wie wichtig das hier ist?«
»Doch! Sie wissen es. Jeder Mann weiß.« Es war nicht untypisch für Isac, dass er sich hinter anderen versteckte, wenn es darauf ankam.
»Aber weißt du es?«
»Klar weiß ich das. Das kleine Fräulein wird in ein paar Tagen hier sein. Sie und der Rabe. Darauf gebe ich dir mein Wort, Joshua.«
Dass Isac es vermied, seinen richtigen Namen auszusprechen, war ein deutliches Zeichen seiner Verunsicherung. Und dafür, dass er selbst an seine Worte glauben musste.
»Wie kannst du mir dein Wort geben, wenn du da draußen nicht selbst dabei bist, Isac?«
Schweiß perlte auf Isacs Stirn hervor und glänzte an seinem Haaransatz. »Ich … ich werde natürlich dabei sein! Das liegt jetzt in meinen Händen! Sicher wie in der Bank von England.«
Graal nahm seinen Arm und führte ihn ans Fenster. Er brauchte seine Macht nicht zu demonstrieren. Er war, wer er war, und brauchte bloß anzudeuten, dass er sie besaß.
»Was würde passieren, wenn wir jetzt hier runterfielen?«, fragte er und nickte zum Abgrund unter ihnen.
Isac lachte angestrengt. »Wir würden zerschmettert werden.«
»Genau. Wir würden zerschmettert werden. Alle beide. Aber weißt du, was der Unterschied zwischen uns ist?«
Isac stand stumm da. Vermutlich gab es zu viele Antworten. Zu viele Unterschiede. Doch er lächelte. Sein Blick war nervös und dennoch voller Liebe. So war die Macht. Sowohl Angst als auch Liebe wecken zu können. Dazwischen auszutarieren. Ein kaum vorstellbares Paar in ständigem Kampf um die Kontrolle.
»Wir würden beide dort liegen, Isac. Gerädert, zerschlagen. Arme und Beine von den Felsen in Form gepresst. Du würdest liegen bleiben, wogegen ich … Meine Knochen würden zueinanderfinden, wieder zusammenwachsen. Langsam, aber sicher. Ich würde am Ende wieder aufstehen. Trotzdem bist du der Glückliche von uns beiden.«
Isac schluckte. »Aus deinem Mund klingt das nicht so.«
Graal schaute ihn an. »Zerstörung ist schmerzhaft. Aber der Schmerz ist kein Vergleich zu den Qualen beim Heilen. Es ist immer leichter, Dinge zu zerschlagen, als sie zu reparieren. Glaub mir, wenn ich sage, du bist der Glückliche von uns.«
Isacs Augen wurden feucht. Seine Mundwinkel zuckten, als wollte er etwas sagen, doch Graal wollte nichts hören.
»Isac, du machst den gleichen Fehler wie so viele andere, wenn sie den Tod aus dem Blick verlieren. Sie glauben, es kommt immer wieder eine neue Chance. Aber diesmal gibt es keine neue Chance. Es gilt jetzt oder nie. Tausend neue Jahre würden nichts nützen. Darum ist kein Preis zu hoch. Nichts, absolut nichts ist wichtiger als das. Verstehst du, was ich sage?«
Isac nickte und senkte den Blick.
»Gut. Lass mich jetzt allein. Ich habe zu tun.«
Isac ging dankbar auf die Tür zu.
»Diskret«, rief Graal ihm hinterher. »Vergiss das nicht.«
Dann kehrte er Isac den Rücken zu und wartete, bis er hörte, wie sich die Tür hinter ihm schloss. Er ging zum Raben. Der stand aufrecht, erstarrt im Prozess vom Kadaver zum Skelett. Fleisch und Federn waren schon vor langer Zeit versteinert. Selbst er konnte daran nichts mehr riechen. Er ballte die Hand zur Faust, bohrte eine Kralle in die Handfläche und ließ die Tropfen auf den Schnabel fallen. Blut auf Knochen.
Er lauschte. Wartete auf das Geräusch von Leben. Sterbende Töne waren schön, aber in Wirklichkeit hatten die Töne, die noch nicht geboren waren, etwas ganz Besonderes.
Der Kadaver begann zu knarren. Der Nacken rührte sich. Der Vogel öffnete den Schnabel. Es dauerte nicht lange, bis er ihre Stimme hörte. Weich und strotzend vor Selbstsicherheit.
»Graal, ich habe Neuigkeiten, deretwegen du mir einen Antrag machen wirst.«
Er gestattete sich ein Lächeln. »Gut, denn gerade jetzt bist du die Einzige, auf die ich mich verlassen kann, Damayanti.«
Der Turm des Sehers stand verwaist da. Er war sonst immer durch eine schmale Brücke mit dem Ritualsaal verbunden gewesen, doch jetzt, da es weder Saal noch Brücke gab, ragte der Turm wie ein Warnsignal der Götter aus der Landschaft. Letzter Halt vor Blindból.
Das gelbe Glas hatte man aus den Fenstern entfernt und wollte es im neuen Ratssaal wiederverwenden. Nur das schwarze Skelett stand noch wie ein kaputter Leuchtturm ganz oben auf der Klippe.
Rime wusste, wenn er dort hinaufging, würde er Bruchstücke des Baumes finden. Vermutlich würden sie noch genau an derselben Stelle liegen wie in der Nacht, als er ihn zerschlagen hatte. Alles war wie immer. Und nichts war wie immer.
Die Gärten hinter Eisvaldr lagen unter einer Schneedecke. Zu beiden Seiten des Weges lugten weiße Blumen hervor, die der Wintereinbruch überrascht hatte. Das Wasser im Vogelbecken vor ihm war gefroren. Eiszapfen funkelten an seinem Rand wie Wolfszähne.
Rime blieb stehen. Hlosnian ging hinter ihm. Hier war der beste Ort für Gespräche. Sogar in großen Sälen konnte die Gabe den Klang weit tragen und dieses Gespräch war nicht für die Ohren des Rates bestimmt.
Er fischte die Ampulle aus der Tasche und reichte sie Hlosnian. »Ich wollte dich schon längst fragen, aber die wissen, wie sie mich beschäftigt halten.« Hlosnian nahm die Ampulle entgegen, zog den Korken heraus und roch daran. »Du willst sie also vergiften?«
Rime konnte einfach nicht anders und musste lachen. »Das Risiko besteht früher oder später. Aber das da ist kein Gift, soweit ich weiß. Das da ist die Tinte, die sie während des Rituals verwenden. Sie machen damit den Jugendlichen ein Zeichen auf die Stirn, wenn sie fertig sind. Nach ein paar Tagen verblasst es.«
Hlosnian verschloss die Ampulle und gab sie ihm zurück. »Ja, auf meine alten Tage habe ich schon einige Rituale gesehen, junger Mann.«
»Nun, alter Mann, ich könnte jedenfalls wetten, dass du nicht wusstest, dass sie damit bei ihnen die Gabe schwächen.«
Hlosnian zog eine buschige Augenbraue hoch. »Mit Tinte? Wie … Aaah … Rabenblut.«
Rime nickte. Jetzt galt es, Hlosnian auf die richtige Fährte zu setzen. Ein Gespräch mit ihm kam einem oft so vor wie drei Gespräche gleichzeitig, vor allem, wenn es um etwas Wichtiges ging.
»Sie sagen, es sei eine Mischung aus Kräutern, Tinte und Rabenblut. Wusstest du das?«
Der Steinflüsterer antwortete nicht gleich. Der Wind erfasste seinen roten Umhang, sodass er seine Füße umspielte.
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