1 ...8 9 10 12 13 14 ...26 Sie wollte wieder weglaufen. Das Einzige, was sie wirklich gut konnte: abhauen. Kam es am Ende nicht immer so?
Sie war von zu Hause weggelaufen. Aus der Hütte, aus Lindris Teestube. Sie war aus dem Fenster geklettert und über die Dächer von Mannfalla getürmt. Und in der Nacht, als der Baum des Sehers zerbrach. In der Schicksalsnacht, die alles verändert hatte. Sie erinnerte sich an Rimes Blick, als sie ihn gebeten hatte, ihren Beutel zu holen, ihn gebeten hatte, sein Leben aufs Spiel zu setzen, um ihn aus den Kerkerschächten von Eisvaldr zu bekommen.
Sie hörte sich selbst lachen. Es wurde zu einem erstickten Schluchzen. Sie rollte sich zusammen, umklammerte den Beutel, um den Schmerz zu betäuben. Die Gedanken brannten. Es war, wie wenn man den Schorf von einer Wunde abreißt, aber sie konnte es nicht bleiben lassen.
Rime. Das weiße Haar. Die Wolfsaugen. Der Kuss.
Sie hatte gewusst, dass es keinen Weg zurück geben, dass sie ihn nie wiedersehen würde. Aber nie war damals nur ein Wort gewesen. Jetzt war es mehr. Es waren Stunden, Tage, Monate. Nie hatte eine Bedeutung bekommen.
Er war jetzt Rabenträger. In einer Welt, in die sie nicht gehörte. Aber in diese Welt gehörte sie offenbar auch nicht. Vielleicht fühlte es sich aus dem Grund so ungerecht, so schmerzhaft, so unsicher an.
Der Mann mit dem Kapuzenpullover.
Dieser Überfall war kein Zufall gewesen. Er hatte sie beobachtet, auf sie gewartet. Und sie wurde das Gefühl nicht los, dass er nicht der Einzige war. Da draußen war es gefährlich. Und sie hatte keinen Zufluchtsort. Dennoch … Sie konnte nicht warten, bis die Polizei sie abholte. Die Polizisten waren in dieser Welt die Gardisten und sie war früher schon einmal in die Hände der Gardisten geraten. Sie hatte nicht auf ihre Instinkte gehört und war geradewegs in den Ritualsaal gegangen, geradewegs in die Höhle des Löwen. Das würde sie nie wieder machen.
Kuro war jetzt kurzatmig. Er lag bewegungslos auf einem Handtuch in einem Pappkarton. Etwas stimmte nicht. Das konnte sie riechen. Hirka erstickte die Gewissheit und packte ihre übrigen Sachen ein. Etwas Geld von Pater Brody für ihre Hilfe. Den Rest an Tee und Kräutern, die sie noch hatte. Viel war es nicht mehr. Sie musste sparsam sein. Was, wenn sie krank wurde? Nicht dass sie sich entsinnen konnte, je krank gewesen zu sein. Das war der Vorteil, wenn man bei einem heilkundigen Vater aufwuchs.
Widerwillig packte sie auch den unsterblichen Apfel ein. Er war wohl besser, als zu verhungern. Sie zog ihr grünes Strickhemd an. In dem hatte sie alle Abenteuer bestanden und das war dem Stück deutlich anzusehen. Aber es erinnerte sie daran, wer sie war. Das Messer steckte sie so in die Wollsocke, dass es am Stiefelschaft festgeklemmt war. Sie konnte das Messer herausziehen, ohne dass sich das Futteral löste. Sie probierte es mehrmals aus, bis sie sicher war, dass es funktionierte.
Hirka zog den Regenponcho über, setzte die Kapuze auf und schulterte den Beutel. Dann hob sie den Karton mit Kuro hoch, warf einen letzten Blick auf das schöne Fenster und ging die Treppe hinunter.
Es war Nacht und niemand würde sie hören. Trotzdem öffnete sie unten die Tür so leise wie möglich. Die Kirche war ein leerer grauer Raum. Es rauschte da drinnen, als sei das Echo aller Besucher im Lauf der Jahrhunderte dort hängen geblieben. Die Dunkelheit lag zwischen den Bankreihen wie schwarze Abgründe. Die Glasmalereien waren in der Nacht verblasst, hatten die Farben ausgemacht, waren eingeschlafen.
Sie ging den Mittelgang entlang. Das Gefühl, beobachtet zu werden, verschwand erst, als sie die Ausgangstür erreicht hatte. Sie drehte den Schlüssel um, der im Schloss steckte. Dann wandte sie sich zum Altar um, zu dem Gemälde von der verletzten Gestalt und der Taube, die sie für Odin gehalten hatte. Für den Gott der Menschen. Aber das Ganze war komplizierter, das hatte sie begriffen. Egal, wer der Vogel war, er blieb stumm.
»So … Jetzt hast du dein Haus wieder für dich«, flüsterte sie und schlüpfte hinaus in die Winternacht.
Nachts war die Stadt erträglicher. Ruhiger. Keine Autos. Und die Geräusche, die da waren, verstand man besser. Betrunkene waren Betrunkene, egal, in welcher Welt man sich aufhielt. Das war immerhin etwas. Wenn sie blinzelte, konnte sie sich beinahe vorstellen, sie ginge die Daukattgata entlang zu Lindris Teestube. Bis ein leerer Nachtbus vorbeifuhr und die Illusion zerstörte.
Hirka ließ die Kirche hinter sich und folgte den Straßenlaternen nach Osten. Hielt sich von allen Gassen und Hinterhöfen fern. Versuchte sich selbst immer wieder daran zu erinnern, die Schultern zu entspannen. Sie war allein. Hier war niemand, der hinter ihr her war.
Hirka hatte sich ihre Zeichnung im Buch angeschaut. Die Karte. Sie glaubte, sie würde Jays Haus finden. Sie wusste, dass sie dort nicht bleiben konnte, aber sie musste ihr Bescheid sagen. Jay war nicht so taff, wie sie immer tat. Und Hirka glaubte nicht, dass sie noch viele andere Freunde hatte. Hirka konnte nicht einfach ohne eine Erklärung abhauen. Außerdem hatte Jay vielleicht gute Tipps, wohin sie gehen konnte. Das war ihre einzige Hoffnung.
Die Luft fühlte sich schwer an. Bald würde es anfangen zu schneien. Der Weg gabelte sich und sie wollte zu dem alten Haus, das sich über die Straße neigte. Sie sah aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Hob den Blick. Was war das? Hatte sie jemanden auf dem Dach gesehen? Hirka hatte im Dunkeln schon immer gut gesehen, aber auch sie konnte sich täuschen. Die Leute hier trieben sich nicht auf den Dächern herum, so viel hatte sie schon mitbekommen. Sie kniff die Augen zusammen, doch der Schatten war fort.
Ob er das war? Der mit dem Kapuzenpulli?
Sie schaute hinunter zu Kuro. Er lag im Karton unter dem Handtuch versteckt und war keine Hilfe. Hirka biss sich auf die Unterlippe, versuchte, die zunehmende Sorge in ihrer Brust zu dämpfen. Sie guckte sich um. Fremde Straßen und Häuser. Eine unbekannte Stadt in einer unbekannten Welt. Was sollte sie machen? Sie konnte nicht zu Jay und ihrer Mutter nach Hause gehen, wenn sie von jemandem verfolgt wurde.
Warum sollte mich jemand verfolgen? Du bist ein Niemand!
Hirka lief die Straße entlang. Zurück in dieselbe Richtung, aus der sie gekommen war. Sie hörte, wie Kuro im Pappkarton kratzte. Er hatte Angst, aber sie traute sich nicht, stehen zu bleiben. Vom Laufen wuchs die Angst. Sie linste zu den Dächern hoch, konnte aber niemanden sehen. Sie entdeckte den Kirchturm wieder. Doch die Erleichterung war nur von kurzer Dauer. Bis sie die Gestalt auf der anderen Straßenseite sah. Der Mann verzog sich schnell in die Schatten, aber jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Sie wurde verfolgt.
Du bist früher schon gejagt worden. Streng deinen Kopf an!
Was würde sie tun, wenn sie hier die Gabe hätte? Sie würde die Angst auseinandernehmen, daraus Stärke ziehen, sie als das sehen, was sie war, und eine Lösung finden.
Sie überquerte den Friedhof, zwischen den Steinen der Toten hindurch, und schlich auf die Rückseite der Kirche. Wer sie verfolgte, würde glauben, sie sei wieder hineingegangen. Hoffte sie.
Sie schob den Karton oben auf die Friedhofsmauer und zog sich danach an den vereisten Kletterranken hoch. Sie knarrten und drohten von der Mauer abzubrechen, doch sie hielten. Sie sprang auf der anderen Seite hinab und zog den Karton herunter. Sie musste einen anderen Ort finden. Jetzt. Sie versuchte still zu sein, doch beim Ein- und Ausatmen zischte ihre Lunge. Wohin sollte sie gehen? Wohin?
Das Gewächshaus …
Wo Pater Brody ihr die Pflanzen gekauft hatte. Wo man Kräuter anbaute. Auch im Winter. In Gewächshäusern, in denen keine Menschen wohnten. Dorthin konnte sie gehen. Dort wäre es sicher. Erinnerte sie sich noch, wo das war? Sie glaubte schon.
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