Alle drei dachten an das Zeichen des Schicksals, das Kaliste am Morgen gesehen hatte. Cornelia spürte, wie ihre Mundhöhle trocken wurde. Zugestoßen? Dem Lehrer? Diese Möglichkeit hatte sie bislang noch gar nicht in Erwägung gezogen.
Sie waren ebenso ratlos wie Kaliste. Eines aber war klar: Hier konnten sie nichts ausrichten. Sie wollten sich soeben verabschieden und zum Gehen wenden, als etwas Seltsames geschah: Titus bemerkte aus den Augenwinkeln heraus, dass sich jemand blitzschnell der Haustür des Lehrers näherte. Doch noch ehe er den glatzköpfigen Mann ganz wahrgenommen hatte, war dieser auch wieder in den Gassen verschwunden. Aber vorher hatte der Fremde etwas vor der Tür fallen lassen. Was? Vor allem aber warum? Auch Cornelia erstarrte. Was ging da vor?
Kaliste blickte zu Boden und sah vor sich einen gefalteten Papyrus liegen. Unter Kalistes ängstlichem Blick hob Cornelia ihn auf und reichte ihn der Frau des Lehrers. Diese faltete ihn auseinander und begann zu lesen. Kalistes Gesicht wurde leichenblass. Neugierig schob sich Cornelia neben die Frau, um herauszufinden, was auf dem Papyrus stand. Überrascht starrte sie auf das Schriftstück.
III
Das Geheimnis des Lehrers
Bei Zeus, ich verstehe nicht ...«, stammelte Kaliste. »Sie haben Marcus Antonius ...« Sie schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund.
»Was? Was haben sie mit unserem Lehrer gemacht?«, rief Cornelia bestürzt.
Aber Kaliste schwieg und schien zu keiner Auskunft fähig.
Cornelia griff beherzt nach dem Papyrus, den Kaliste zitternd in den Händen hielt. Was sie las, schnürte auch ihr die Kehle zu:
DEIN GELIEBTER MARCUS ANTONIUS, WUROE VON MIR,
DEM MÄCHTIGEN DER MÄCHTIGSTEN, ENTFÜHRT.
WENN DU IHN LEBEND WlEDERSEHEN WILLST,
DANN GIB MIR DAS LIBER SECRETUS DE TERRA PHA.
SAG NIEMANDEM, WAS HIER VoRGEHT,
SONST WIRST DU DEINEN MANN ERST IM HADES WIEDERSEHEN, KALISTE.ALLEIN ICH, DER
MÄCHTIGE, ENTSCHEIDE , OB ICH IHN FREILASSE ODER NICHT !ES, LIEGY ALLEIN DARAN OB
ICH BEKOMME, WAS ICH WILL, UND OBMIR
GEFÄLLT, WAS ICH LESE.
liebe frau. ich bin ihm ausgeliefert. wenn es
dich nicht gäbe , würde ich ihm nie mals das geheime buch übergeben.eher wäre ich zu
sterben bereiy. so muss ich dich bitten: suche jenen raum im haus, den du nicht kennst.
der strahl der sonne, der dich blenndet.
wird dich leiten. er zeigt, was sich öffnen
lässt.
hinterlege das buch, das mein entführer fordert morgen nachmittag am templum rotundum, dritte säule von links beim aufgang . und wie gesagt:
keine ädilen! andernfalls
oculi hydrae
Unzweifelhaft stammte der letzte Teil der Nachricht von Marcus Antonius. Cornelia erkannte die Handschrift des Lehrers. Das Ganze war mehr als rätselhaft.
»Das glaube ich nicht!«, sagte sie schließlich verblüfft. »Soll das komisch sein? Nichts als unverständliche Andeutungen. Und überhaupt: Wer entführt denn einen Lehrer? Hat man je von so einem Buch Liber Secretus de Terra Pha gehört? Und was soll dieser seltsame Hinweis mit dem Strahl der Sonne?« Sie schüttelte ungläubig den Kopf.
Titus rieb sich nervös das Kinn. »Merkwürdige Sache«, murmelte er. »Wer sind die Oculi Hydrae? Und warum fordern sie für Marcus Antonius kein Geld, sondern eine mysteriöse Buchrolle? Und warum schreibt der Lehrer nicht, in welchem Regal sie zu finden ist? Stattdessen gibt er seiner eigenen Frau ein Rätsel auf. Such es im Raum, den du nicht kennst? Vollkommen verrückt!«
Es war wirklich verrückt, aber umso deutlicher spürten alle, dass Gefahr auf sie zukam. Was war jetzt zu tun? Die Ädilen einweihen, damit sie mit ihrer Amtsgewalt gegen die Verbrecher vorgingen? Aber genau davor hatte sie der unbekannte Entführer heftig gewarnt. Das Messer und die Blutstropfen waren nicht misszuverstehen.
In diesem Moment erwachte Kaliste aus ihrer Starre. Sie entriss Cornelia das kleine Papyrusblatt und rief in höchster Not: »Aber davon dürft ihr doch gar nicht wissen. Davon dürft ihr doch nichts wissen. Sonst bringe ich meinen Mann noch in allergrößte Gefahr.«
Sie war völlig außer sich und schrie wie verrückt. Cornelia drehte sich nach allen Seiten um. Jedes Aufsehen musste vermieden werden! Rasch schob sie die Frau mit einer energischen Geste ins Haus und schloss hastig die Tür hinter sich.
»Was wollt ihr zwei von mir?«, fragte Kaliste. Ihre Stimme klang ängstlich.
»Keine Sorge, Kaliste, wir mögen doch alle unseren Lehrer«, versuchte Cornelia, die Frau zu beruhigen. »Und deshalb müssen wir in Ruhe überlegen, was jetzt geschehen soll. Vielleicht ist das alles nur ein derber Scherz, den faule Schüler sich ausgedacht haben.«
Sie musterte Titus streng. Doch der hob entsetzt die Hände, dass er nichts mit der Sache zu tun hatte.
›Bella!‹, durchfuhr es Cornelia. Hatte sie etwa ...? Das durfte doch nicht wahr sein!
Kaliste stand da mit offenem Mund und hörte ungläubig zu. »Marcus Antonius hat immer gesagt, dass du die Klügste in seiner Gruppe bist, Cornelia. Wenn du mir und ihm helfen kannst, dann tue es. Denn die Götter, die alle unsere Wege bestimmen, haben gewollt, dass ihr mich heute besuchen kommt.«
»Ich sehe das auch so, Kaliste«, antwortete Cornelia selbstbewusst.
Titus verdrehte die Augen, als seine Schwester fortfuhr: »Die Götter planen für uns mit. Deshalb frage ich dich, ob du eine Ahnung hast, wo das Liber Secretus de Terra Pha steckt. Weißt du, was es damit auf sich hat?«
Kaliste war keine große Hilfe. »Ich habe niemals zuvor von diesem merkwürdigen Buch gehört. Was ist nur in Marcus Antonius gefahren, dass er mir so merkwürdige
Anweisungen gibt? Ich begreife es nicht«, murmelte sie niedergeschlagen.
»Das ist genau unser Problem!« Cornelia machte eine ausladende Geste das Haus betreffend: »Kann es hier einen Raum geben, den du nicht kennst, Kaliste?«
Ihre Stimme hatte plötzlich einen Klang angenommen, der Titus unwillkürlich aufhorchen ließ. Wenn Cornelia so redete, dann konnte das nur eins bedeuten: Sie witterte ein neues Abenteuer!
Aber die Frau des Lehrers schüttelte bloß stumm den Kopf. »Wie soll ich das wissen? Wozu soll es hier einen geheimen Raum geben?«
»Das Geheime Buch vom Lande Pha«, sagte Titus nachdenklich. »Was beim Hades ist das Land Pha? Davon hat uns unser kluger Lehrer niemals erzählt, oder?« Er schaute Cornelia fragend an.
Seine Schwester musste ihm recht geben: »Selbst ich habe keinen Schimmer, wovon die Rede ist. Aber wir müssen es herausfinden. Schließlich ...«
»Schließlich soll ich es ja gegen das Leben meines Mannes eintauschen«, schluchzte Kaliste auf. Sie ließ sich auf einen Schemel nieder und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen.
Die hübsche dunkelhaarige Griechin wirkte hilflos und allein.
Cornelia und Titus hatten zwar keine Ahnung, wie sie der Frau ihres Lehrers beistehen konnten, aber Cornelia spürte, dass sie ihr Mut zusprechen musste.
»Die Götter haben bestimmt, dass wir Zeuge dieses Schreibens werden«, erklärte sie mit fester Stimme. »Und wir werden dir helfen, Marcus Antonius gegen dieses merkwürdige Buch auszutauschen. Wir müssen nur herausfinden, wo er es versteckt hat.«
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