Rune Pär Olofsson - Der Dynamitkönig Alfred Nobel

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Spannender biographischer Roman über das Leben, Schaffen und Werken des Dynamitkönigs Alfred Nobel. Rune Pär Oloffson zeigt in seiner Biographie die Fülle der Widersprüche, in denen sich das Leben des Dynamitfabrikanten Alfred Nobel vollzog.-

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Alfred wagte es nie, die Mutter nach diesem Schuldgefängnis zu fragen. Nicht weil er Angst hatte, sie könne böse werden, das wurde sie niemals. Sondern, damit sie ihn nicht belügen mußte – oder, noch schlimmer, damit sie nicht die Wahrheit zu sagen brauchte.

Auf verschlungenen Wegen fand er heraus, daß seine Schulkameraden nicht gelogen hatten: Immanuels Gläubiger hatten ihm tatsächlich mit dem Schuldgefängnis gedroht. Was das war, wußte in Stockholm jedes Kind – von den 85 000 Einwohnern der Stadt waren 13 000 auf die Armenpflege angewiesen. Er hatte diese Angaben selbst in Stockholms Dagblad bei Großvater und Großmutter zu Hause gelesen und rechnete sich aus, daß es mehr als elf Prozent Arme gab.

Da half das Wissen nicht viel, daß selbst Bellman im Schuldgefängnis gesessen hatte ...

»Mama, wir sind doch nicht arm?«

Als die schweren Worte einen Sinn bekamen, konnte Mutter durchaus versichern, daß sie wirklich nicht arm seien. Jetzt nicht mehr! Also sind sie es gewesen? Nun ja, doch vom Vater in Petersburg kamen immer aufmunterndere Berichte. Es ging ihm immer besser dort in Rußland. Er verdiente viel Geld, und der Zar schätzte ihn als seinen Freund. Bald würden sie alle zu ihm fahren und bei ihm bleiben können – sie würden wieder eine richtige Familie werden!

Alfred versuchte nie, sich mit den neuen Erfolgsnachrichten vom Vater gegen den ständigen Klatsch zur Wehr zu setzen. Er traute ihnen ganz einfach nicht. Bestimmt waren sie arm, wenn ihr Vater hatte fliehen müssen, um nicht im Schuldgefängnis zu landen! Und wenn er jetzt so viel Geld verdiente, wie er behauptete: Warum mußte Mutter sich dann noch immer in ihrem kleinen Geschäft plagen und sich mit dem so viel Mühe machenden Gemüse und der schweren Milch abschleppen? Und warum wurde jedes Kleidungsstück stets aufs neue gewendet, erst die Innenseite nach außen und dann wieder andersherum? Warum mußte er Robert helfen, auf der Straße Zündhölzer zu verkaufen? Warum wohnten sie in einer engen Behausung auf dem Hinterhof, während ihre Verwandten in großen Wohnungen zur Straße hinaus lebten und ein Sommerhaus auf Dalarö besaßen?

Alfred haßte die Schule, doch das Lernen liebte er. Im ersten Schuljahr zog er sich ganz in sich zurück und gab sich selbst das Versprechen, so fleißig und gelehrig zu sein, daß er nie arm zu sein brauchte – soweit das von ihm abhing. Nach seinem ersten Zeugnis zu urteilen, sah es vielversprechend aus. Für die Auffassungsgabe erhielt er die Note A – nur noch zwei andere in der Klasse hatten eine so hohe Note. Ebenso gute Zensuren erhielt er für Fleiß und Betragen – obwohl die Betragenszensur im nächsten Halbjahr auf B hinunterrutschte (das lag an dem einen Mal, dem einzigen, da er seinen Vater in Schutz genommen hatte).

In einer Schule gab es viele wunderbare Dinge. Solche wie die Weltkarte. Darauf konnte er St. Petersburg ausfindig machen. Dort entdeckte er auch, daß Vater die ganze Zeit über in Rußland gewesen war, obwohl man zuerst gesagt hatte, er sei in Finnland – doch war dieses Land ja einfach ein Teil Rußlands! Tatsächlich gab es auch einige Schulkameraden, die er mochte und die ihn niemals hänselten, weil er arm war. Sie würde er nie vergessen, obwohl er nur ein einziges Jahr mit ihnen in der Schule war. Lange Zeit später traf er sie wieder, und er wußte da, daß man sich auf sie verlassen konnte.

Andriette ... Alfred hatte Mutter immer geliebt. Das taten seine Brüder auch, und alles andere wäre verwunderlich gewesen, so klug, tüchtig und schlagfertig wie sie war. Mutter hatte sich als Puffer zwischen Vater und sie gestellt, und ihre besondere Sorge hatte wohl Alfred gegolten, solange er der Kleinste war. Doch auch nach Emils Geburt, der doch zehn Jahre jünger war als Alfred, schien ihm, er wäre Andriettes Liebling. Das fanden seine älteren Brüder übrigens auch – und das war weniger angenehm! Obwohl er der Meinung war, sie seien ungerecht und hätten sich jedenfalls über nichts zu beklagen. Er selbst fand jetzt auch zuweilen, daß Emil Immanuels Liebling war, und darin stimmten die anderen Brüder mit ihm überein.

Nun ja, das war es ja eigentlich nicht, was ihn jetzt beschäftigte: Eher waren es die Gründe, warum er seine Mutter liebte und verehrte. Und diese Gründe wurden immer deutlicher, je älter er wurde und je mehr er von ihrem einsamen Stockholmer Leben verstand, als Vater auf der Flucht vor dem Schuldgefängnis war. Auch schon, als er noch ganz klein war, kam ihm beim Spielen mit seinen Cousins und anderen Kindern sogenannter besserer Leute der Gedanke, daß seine Mutter etwas Ungewöhnliches tat – ungewöhnlich, außer für Arme und Arbeiterfrauen. Mutter mußte die ganze Woche aus dem Haus gehen, um Mann und Kinder zu versorgen!

Am Tonfall der anderen Kinder hörte er, daß sie seine Mutter dafür ein wenig verachteten. Eigenartigerweise war er selbst nie in diese Falle getappt. Falls er nun nicht im Nachhinein seine Erinnerungen verschönte und sich edleren Sinnes darstellte, als er gewesen war.

Nein, er glaubte sich nicht falsch zu erinnern. Anfangs hatte Mutter in demselben Haus gearbeitet, in dem sie wohnten, in der Filiale der Molkereigesellschaft Audumbla. Schon sehr zeitig hatte er gewußt, was auf dem Schild über dem Laden stand. Audumbla wurde zur Zauberformel, die man murmeln und flüstern konnte. Audumbla bedeutete: Ich sehne mich danach, daß Mutter nach Hause kommt. Und vor allem wurde Audumbla zum Symbolwort, nachdem Mutter den Kindern erklärt hatte, was es mit dem merkwürdigen Namen auf sich hatte.

Audumbla – oder Audhumla – war die Urkuh in der nordischen Göttersage. Als das Eis von Niflheim schmolz, entstand daraus eine gewaltige Kuh. Ihr Bauch erhob sich über die Hügel und Berge wie ein riesengroßes Federbett oder eine runde Haufenwolke. Ihre Beine wurden zu Säulen in den vier Ecken des Weltraums. Aus dem Euter dieser gewaltigen Kuh strömten vier Flüsse voller Milch – und die Milch nährte den Riesen Ymir.

Wenn Audumbla selbst Nahrung benötigte, leckte sie an den Eiskontinenten rundumher, und sie bemerkte, daß sie salzig schmeckten, und das gefiel ihr. Zugleich brachte die Kuh durch ihr Lecken etwas zutage – ja, was war das nur?

Gegen Abend des ersten Tages hatte ihre Zunge das Haar eines Mannes freigelegt. Den ganzen nächsten Tag schnüffelte und schleckte sie, bis der Kopf des Mannes erschien. Am dritten Tag hatte sie die ganze Männergestalt freigeleckt.

Die Götter nannten ihn Buri: Sie betrachteten ihn als ihren Stammvater, herrlich anzusehen und groß und mächtig.

Zu gegebener Zeit bekam Buri einen Sohn, den er Bör nannte. Bör nahm Bestla zur Frau, die Tochter des Riesen Böltorn. Bör und Bestla bekamen drei Söhne: Odin, Vili und Ve. Manche Vorväter der Riesen und Götter waren böse auf Grund des Giftes, das aus Niflheim heraufgedrungen war. Andere waren gut.

Buri war gut.

Alfred schwankte lange zwischen Audumbla und Bestla: Welche von ihnen stellte seine Mutter dar? Audumbla, Andriette, Alfred – alle drei Namen begannen mit A, also lag das am nächsten, und es war auch am verlockendsten. Zugleich war er selbst einer von drei Brüdern, und Odin, Vili und Ve hatten aus dem Körper des toten Riesen Ymir das ganze Universum gebaut und die Welt errichtet. Sie erschufen Neues, erfanden Dinge – genau wie Immanuel es tat und wie Alfred es sich erträumte vor all den Werkzeugen, Winkelhaken und Winkelmessern des Vaters. Roberts Namen enthielt einen der Vokale von Odin, doch dann wurde es schon schwieriger ...

Anfangs verkörperte das Schild der Audumbla – Gesellschaft allein Mutter Andriette. Die Milch, die Nahrung, die schnuppernde und schleckende Fürsorge. Manchmal zog er die Schultern hoch vor Schreck, wenn ihr Mund und ihre Zunge seinem Haaransatz allzu nahe kamen: Was für ein Ungeheuer konnte sie wohl aus ihm herausschnüffeln! War es Buri, mochte es ja noch angehen – Buri war gut ...

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