In diesem Buch soll nicht so scharf unterschieden werden zwischen den einzelnen Begriffen, zumal auch in vielen Berichten der betroffenen Menschen »Glück« im Sinne von »Zufriedenheit« oder »Lebensqualität« beschrieben wird. Die exakte Definition ist hier letztlich nicht so entscheidend, viel wichtiger ist es, Menschen mit Autismus ein Leben zu ermöglichen, das sie als »glücklich« oder »zufrieden« bezeichnen können.
Es werden in der Literatur unterschiedliche psychologische Betrachtungsweisen im Hinblick auf die Lebensqualität vorgestellt (z. B. Osterrieder 2010, 87):
Lebensqualität als Abwesenheit von Belastung, Beeinträchtigung, Krankheit
Lebensqualität als positive Affektbilanz (Fokussierung auf die emotionale Facette)
Lebensqualität als Grad der Zielerreichung bzw. als individuelles Befriedigungsniveau (Fokussierung auf die motivationale Facette)
Lebensqualität als Resultat individueller Bewertungs- und Urteilsprozesse (Fokussierung auf die kognitive Facette)
Lebensqualität als Persönlichkeitsmerkmal im Sinne einer Glücksfähigkeit, gekoppelt mit einer positiven Grundeinstellung
Lebensqualität als »Glück von innen« im Sinne des »Mit-sich-im-Reinen-Seins«.
Die Beurteilung der Lebenszufriedenheit und Lebensqualität eines jeden Menschen kann nach diesen Betrachtungsweisen nur von ihm selbst vorgenommen werden.
Anders verhält es sich bei dem Modell des »positiven Funktionierens« von Ryff (1989, zitiert in Frank 2007, 6), das einen der inzwischen zahlreichen Versuche darstellt, objektive Faktoren zu ermitteln, die die Lebensqualität eines Menschen messen sollen. Sie wird hier anhand folgender Kriterien beurteilt:
Selbstakzeptanz
positive Beziehungen zu anderen
Autonomie
Umweltbewältigungen
Lebenssinn
persönliches Wachstum.
Deutlich wird dabei jedoch bereits an dieser Stelle, dass hier die ganz eigenen innerpsychischen Aspekte, die subjektive Beurteilung und vor allem auch die unterschiedlichen Voraussetzungen und Möglichkeiten bezüglich der Ausdrucksfähigkeit fehlen. Ähnlich sieht es aus bei den standardisierten Fragebögen, die zur Erfassung der Lebenszufriedenheit zur Verfügung stehen, etwa dem Fragebogen zu Lebenszielen und zur Lebenszufriedenheit (FLL) von Kraak und Nord-Rüdiger (1989) oder dem Fragebogen zur Lebenszufriedenheit (FLZ) von Fahrenberg et al. (2000), der zehn Lebensbereiche erfasst: Arbeit und Beruf, finanzielle Situation, Freizeit, Ehe und Partnerschaft, eigene Kinder, eigene Person, Sexualität, sonstige Kontakte und Wohnung.
Bislang liegen keine Erfahrungen vor, ob sich solche Verfahren auch bei autistischen Menschen anwenden lassen und welche Aussagekraft sie dabei haben können. Weiter unten (S. 175ff) soll noch eine Diskussion angeregt werden, ob und ggf. wie sich Lebenszufriedenheit und Glück bei Menschen mit Autismus anhand objektiver Kriterien ermitteln lassen.
Inzwischen hat sich eine ganze Forschungsindustrie etabliert, um der Frage nachzugehen, was Menschen glücklich macht. Ed Diener und Martin Seligman gelten als die Begründer der Glücksforschung. Sie formulierten erstmals die Notwendigkeit, nicht nur zu untersuchen, was Menschen unglücklich und krank macht, sondern auch die Faktoren herauszufinden, die ein glückliches Leben begünstigen.
Seither suchen Wissenschaftler unterschiedlicher Fachbereiche nach Sozialindikatoren, um die Voraussetzungen für Glück und Lebenszufriedenheit möglichst exakt zu bestimmen. Solche Indikatoren sind u. a.:
Wohnsituation
Sozialkontakte
Ehe, Familie
Haushalt
Einkommen
gesundheitlicher Zustand
Bildungsniveau und Erwerbsstatus (vgl. Stosberg 1994, 108).
Auch die Hirnforschung ist am Thema Glück beteiligt, denn all das, was wir als Glück erleben, entsteht im Gehirn durch ein sehr komplexes Zusammenspiel der unterschiedlichen Hirnregionen und durch körpereigene Botenstoffe, insbesondere Serotonin, Dopamin und Noradrenalin, die deswegen manchmal auch als »Glückshormone« bezeichnet werden (u. a. Walter 2014). Von der pharmazeutischen Industrie zu medizinischen Zwecken hergestellt, werden solche Substanzen als Medikamente etwa bei Depressionen verwendet.
Es ist nachgewiesen, dass das Gehirn mit seinen Aufgaben »wächst«, und zwar ganz im wörtlichen Sinne. Durch gezielte Anforderungen vergrößern sich tatsächlich die entsprechenden Hirnbereiche, um darauf angemessen reagieren zu können. So kann sich das Gehirn u. a. darauf einstellen, auch auf schwierige Situationen und Herausforderungen zu reagieren, sie gut zu verarbeiten und damit klarzukommen.
Das Glücksempfinden selbst scheint altersabhängig zu sein. Zwischen 20 und etwa 35 Jahren erfahren die meisten Menschen einen ersten Höhepunkt, das ist das junge Erwachsenenalter, in dem man frei zu sein scheint von Verpflichtungen und Unsicherheiten. Dann folgt ein »Glückseinbruch« mit einem Tiefpunkt im Alter von etwa vierzig Jahren. In dieser ersten Hälfte des Berufslebens muss eine Existenz aufgebaut werden, nicht alle Hoffnungen und Erwartungen lassen sich erfüllen. Außerdem kommt oft Stress in Partnerschaft und Familie hinzu. Aber schließlich, ein paar Jahre nach der berüchtigten »Midlife-Crisis«, kehrt das Glück langsam zurück, die Menschen werden gelassener und sind nach Ansicht der Forscher kurz vor der Rente wieder so glücklich wie einst mit zwanzig (Raffelhüschen & Güllner 2014).
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