Pirmin Müller
Roman
Mit 1% seiner Einnahmen unterstützt boox-verlag eine Umweltschutzorganisation.
Impressum
© 2021 boox-verlag, Urnäsch
Alle Rechte vorbehalten
Cover-Illustration: Irene Schoch
Covergestaltung: Jonathan Graf, media-graf.ch
Lektorat: Verena Schneider
Korrektorat: Beat Zaugg
ISBN 978-3-906037-62-2 (Taschenbuch)
ISBN 978-3-906037-63-9 (ebook)
www.boox-verlag.ch
Alles ändert sich .
Ovid
1. Falsche Ballerinas
2. Rahel
3. Die Kommission
4. Es hallt von der Kirchenwand
5. Sara
6. Sara
7. Ein guter Tag
8. Otto
9. Dorothea
10. Dorothea
11. Disput
12. Sommerloch
13. Nachts auf der Autobahn
14. Von oben gesehen ein weites Land
15. Blaue Augen
16. Die Feier
17. Die Feier
18. Häusermanns Hinterlassenschaft
19. Besuch
20. Wenn es dunkel wird und kalt
21. Obergrenchenberg
22. Besitzverhältnisse
23. Lenas Podcast, erster Versuch
24. Lenas Podcast, zweiter Versuch
25. Stadtrat
26. Spätherbst
27. Die Kommission
28. Rahel
29. Kindheit
30. In der Ruhe liegt die Kraft
31. Unterwegs
32. Das Konzert
33. Lena schreibt
34. Lena schreibt
35. Lena schreibt
36. Rahel
37. Rahel
38. Mauern
39. Untiefen
40. Dorothea und Otto
41. Am Fluss
42. Es mangelt nicht an Mut
43. Einvernahme
44. Ich werde bei dir sein
45. Abschied
46. Otto
47. Lyon
48. Lena schreibt
Dank
Rahel stand in der Tür und wartete. Es dauerte, bis ihre Tochter passende Schuhe gefunden hatte. Nach einigem Hin und Her entschied sich Lena für weisse Turnschuhe, schlüpfte hinein und zeigte ihr fröhlichstes Zahnspangenlachen. Sie hauchte einen Kuss in die Luft, rannte aus dem Haus und vornübergebeugt den Fussweg zur Altstadt hoch. Auf halber Höhe traf sie eine Mitschülerin, gemeinsam nahmen sie die Abkürzung über den Kirchsteig.
Rahel klopfte eine Zigarette aus der Packung und zündete sie an. Gegenüber der Veranda hellte sich die Betonwand mit der höher steigenden Sonne auf.
Als Kinder hatten sie von hier Aussicht auf ein überwuchertes Gelände, auf dem eine backsteinerne Werkstatt stand, deren Dach eingefallen war. Ein Baum wuchs aus der Lücke, ein prächtiger Ahorn, hinter dem Sara und sie sich versteckten, wenn Mutter nach ihnen rief. Sie warteten aneinandergeschmiegt und tuschelten, bis Vater in die Werkstatt trat und schimpfte.
«Kommt endlich nach Hause. Wer weiss schon, wer sich im Halbdunkel herumtreibt. Mutter hat es nicht umsonst verboten.»
Vater war ein ängstlicher Mann gewesen.
Rahel stellte den Aschenbecher auf den Sims, liess sich in der Küche Wasser über die Unterarme laufen, trocknete die Hände gründlich ab und versuchte, ihre Haare zu ordnen. Im Flur schaute sie sich nach allen Seiten um (allein im stillen Haus fühlte sie sich unbehaglich, manchmal beobachtet) und stieg die Treppe hoch in ihr Atelier. Dort nahm sie den Papierstapel für die Gemeinderatssitzung und warf ihn auf den Tisch zu den anderen Dokumenten, die sie auch noch nicht gelesen hatte.
Sie setzte sich auf ihren Atelierstuhl, ein Modell aus den Fünfzigerjahren. Die Stifte lagen bereit. Sie nahm einen weichen Bleistift für die Skizze, atmete aus, erschuf sich vor dem inneren Auge das Bild, die Komposition der Linien, die Anordnung der Farben. Der erste Strich schwang sich dynamisch von links unten nach rechts über das Papier; der mächtige Rücken des Löwen. Die gefährliche Entschlossenheit des Blicks gelang mit wenigen Andeutungen, auch die gespreizten Pfoten. Unschlüssig, ob er noch lauert oder sich bereits im Sprung befindet, legte Rahel den Stift beiseite, setzte sich auf die Vorderkante des Stuhls, ahmte mit vorgereckten Armen und Krallenfingern die Bewegung nach.
Der Löwe lauert, er schleicht mit peitschendem Schwanz dem Boden entlang, zum Sprung bereit. Auf einem rötlichen, vom Wind geschliffenen Felsbrocken.
Sie skizzierte ein zerzaustes Bäumchen auf dem Skizzenblock, doch die Versuche misslangen ein ums andere Mal, bis sie es spiegelbildlich zeichnete. Jetzt spürte sie den Wind, der trocken und staubig durch Busch und Löwenmähne fährt. Erneut malte sie mit ihren Händen die Bewegungen in die Luft. Sie nahm den Pinsel und tunkte ihn in die Tusche. Zügig zog sie die Linien, kein Gedanke störte. Nach dem letzten Strich legte sie ihre Werkzeuge beiseite. Während die Farbe trocknete, kalligraphierte sie den Text mit hohen Schwüngen der Buchstaben, en passant hingeschrieben, trotzdem leserlich. So wünschte es Dorothea, die Auftraggeberin, für den fünfundvierzigsten und vielleicht letzten Hochzeitstag, den ihr Mann wachen Verstandes erleben würde.
Die Eingangstür knallte ins Schloss, Lenas Schulmappe scheuerte über die Steinplatten.
«Mama, bist du hier?»
«Natürlich bin ich hier. Wo denn sonst?»
«Es ist Mittag, hast du das nicht bemerkt?»
Rahel rannte die Treppe hinunter, entschuldigte sich – «habe im Atelier die Zeit vergessen» – und fragte nach Essenswünschen.
«Ich koche selbst.» Lena schaute tief in die dunklen Augen ihrer Mutter. «Isst du mit?»
«Ich mache uns feine Spaghetti», verteidigte sich Rahel.
Lena ging an den Vorratsschrank, schüttelte den Kopf und öffnete den Kühlschrank.
«Kaum ist Marek weg, bricht bei uns das Chaos aus.»
«Gehen wir besser in das neue Restaurant an der Aare, ich lade dich ein.»
«Danke, Mama», spöttelte Lena.
Das Verhalten des Mädchens wurde für Rahel zunehmend rätselhaft; ein launisches, kindliches Wesen mit pubertärem Körper und Zahnspange.
«Es gibt dort vegetarisch, da bin ich mir sicher. Schöne Atmosphäre, direkt am Ufer.»
«Einverstanden. Aber wenn ich einen Lehrer sehe, flüchte ich sofort. Ich verstecke mich unter dem Tisch.»
Rahel lachte.
«Komm schon, Mama, sonst ist alles besetzt.» Lena zog sie am Arm.
«Meine Schuhe, Kindchen.»
«Nimm meine, die stehen dir.»
«Soweit kommt es noch», erwiderte Rahel, während sie in Lenas hellblaue Ballerinas schlüpfte (sie passten ausgezeichnet).
«Wir sind eben beide ziemlich klein.»
«Bei dir besteht wenigstens noch Hoffnung.»
«Bald bin ich grösser als du.»
«Die Mama bleibe trotzdem ich.»
«Einverstanden», sagte Lena.
Der mit frischem Zitronensaft zubereitete Couscous-Salat schmeckte vorzüglich, Mutter und Tochter waren sich (ausnahmsweise) einig: herrliches Essen, wunderbares Ambiente.
Rahels Handy summte, auf dem Display erschien Dorotheas Nummer.
Per Handzeichen verabschiedete sich Lena, stellte Besteck und Teller zusammen und ging damit zur Rückgabe. Dort übernahm es eine Angestellte, eine dunkelhäutige Frau mit einer Zahnlücke. Lena war empört, in Geschichte hatten sie den Kolonialismus und dessen Folgen behandelt. In einer Mischung aus Entrüstung und diffus schlechtem Gewissen bedankte sie sich überschwänglich für die Geschirrabnahme, völlig übertrieben, wie sie selbst fand, und sie fragte sich, ob das nicht auch schon wieder Rassismus sei. Da sie freundlich verabschiedet wurde, beschloss sie, dass es so schlimm nicht gewesen sein konnte.
Читать дальше