Während zweier Jahre hatte sie einen Freund gehabt, von dem sie sich im Herbst getrennt hatte. Er verstand nicht, was an ihm hätte ungenügend sein sollen. Es liege nicht an ihm, hatte sie ihm gesagt und kindisch gekichert, da sie sich fühlte wie eine Schauspielerin in den billigen Serien, die ihre Mutter schaute.
Im März begann sie eine Affäre mit einem zehn Jahre älteren Mann namens Oskar, der kurz vor der Heirat stand. In einer unkontrollierbaren Manie suchte er Sex mit jungen Frauen, Sara traf er in einem Café (ihr war eine Münze zu Boden gefallen, er gab sie zurück). Sie war sofort verliebt, auf den ersten Blick. Doch entgegen seinen Beteuerungen heiratete Oskar im Mai. Die Feier soll bieder gewesen und Oskar stockbesoffen. Sara war untröstlich, löschte seine Nummer und lernte verbissen für die Matura.
Am 4. Juni 1998, einem Donnerstag, hatte sie Prüfungen. Über Mitteleuropa richtete sich ein stabiles Sommerhoch ein, die Böden trockneten, es wurde heiss. Am Abend ging sie mit Rahel in den Stadtpark, ein längliches Gebilde, das sich um einen Teil der Altstadt zog – eigentlich nichts weiter als ein Flickenteppich aus Rasen, Gehölz und Rabatten. Um die Bänke hatten es sich Jugendliche gemütlich gemacht, die den Sommer dieses vielversprechenden Jahres gemeinsam verbringen wollten.
Emilios Geburtstagsparty fand im hinteren Teil statt. Er war in Feierlaune, denn er wurde dreiundzwanzig und glaubte an das Glück von Primzahlen. Bis vor kurzem hatte er mit Rahel das Lehrerseminar besucht (sie hatte nach drei Semestern abgebrochen). Er war verliebt in ihre Art, unprätentiös und doch besonders zu sein. Irgendjemand brachte kalifornischen Rotwein aus dem Sonoma County, mit designten Etiketten, damals eine Rarität. Marihuana war im Umlauf, Rahel verzichtete.
Sara und ihre Freunde sassen etwas abseits auf einer riesigen Wolldecke. Im Laufe der Nacht stiessen weitere Personen dazu, die meisten kannte sie vom Sehen. Ein blonder Schreiner mit breitem Rücken und zurückgebundenem Haar schlich um sie herum, setzte sich neben sie, die Zigarettenpackung wie ein Vietnam-GI zwischen Schulter und T-Shirt gesteckt. Er quatschte auf sie ein und versuchte sie zu küssen. Sara rutschte von ihm weg. Der blonde Schreiner verlangte ihre Nummer.
Sara winkte ab. «Ich muss jetzt gehen», sagte sie und rief nach ihrer Schwester. Wenig später verabschiedeten sie sich von ihren Freunden und zogen kichernd durch die Gassen bis zur Treppe bei der Kirche – wo sich Sara mit dem Hinweis auf den verloren gegangenen Armreif umdrehte und verschwand.
Die erste Befragung fand drei Tage später in einem kahlen Raum statt. Rahel wartete, bis der Polizist Kaffee brachte. Er stellte ihn hin, ein dünnes Wässerchen in einem beigen Plastikbecher.
«Wie in einem Film.» Rahel entschuldigte sich umgehend. «So habe ich es nicht gemeint.»
«Wie sonst?», fragte der Polizist, setzte sich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches.
Rahel zögerte, sie war verwirrt.
«Von mir aus können wir beginnen – es ist nur –, es fühlt sich unwirklich an, hier zu sein.»
«Das höre ich oft», beruhigte sie der noch junge Ermittler mit näselnder Stimme, sein linkes Augenlid zuckte. Er stellte präzise Fragen, sie antwortete so ausführlich sie vermochte. «Jedes Detail ist hilfreich», wiederholte der Ermittler mehrmals.
Sie verstrickte sich in Widersprüche, war sich bei einfachen Begebenheiten unsicher, ob sie tatsächlich so stattgefunden hatten.
«Ich mache mich noch selbst verdächtig», murmelte sie resigniert, als es ihr nicht gelang, die Ereignisse zeitlich zu ordnen.
«Die Erinnerung», erklärte er trocken, «ist eine Konstruktion – oder um es weniger gewählt auszudrücken: ein Sauhund.»
Erleichtertes Lachen an beiden Seiten des Tischs. Auf seine Nachfrage beschrieb sie noch einmal den blonden Schreiner. Seine Tätowierung am Oberarm, oben an der Schulter. Ein Ornament, kein Bild, etwa so breit wie eine Hand.
Dominik Schmidlin, der Schreiner, wurde festgenommen. Er log, da er kein Alibi vorzuweisen hatte. Später behauptete er, er habe im Park geschlafen, unter einem Busch. Schwierige Familienverhältnisse, Vater und Bruder polizeibekannt. Die Staatsanwaltschaft ordnete Untersuchungshaft an.
Sein Bild erschien in der Zeitung: «Hat er Sara getötet?»
Nachgewiesen werden konnte ihm nichts. Doch Sara blieb verschollen, und Dominik Schmidlin weiterhin tatverdächtig. Er setzte sich zur Wehr, erklärte jedem, dass er damit nichts zu tun habe. Niemand schien ihm zu glauben; je mehr er sich verteidigte, desto verdächtiger machte er sich. Ein Teufelskreis, aus dem er keinen Ausweg fand.
Ende September raste er auf der Hauptstrasse zwischen Sursee und Beromünster in einen Baum und verstarb im brennenden Auto.
Es hiess, der Unfall sei als Schuldeingeständnis zu werten. Beweise gab es keine.
Dominik Schmidlin blieb nicht der Einzige, der am Verschwinden Saras zugrunde ging. Auch die Ehe der Zeittlingers zerbrach an der Hoffnung, dass die Tochter eines Tages wieder vor der Tür stehen würde. An den Berichten über Marc Dutroux, dem Monster aus Belgien, und Natascha Kampusch, die ein Jahrzehnt in einem Keller gefangen gehalten worden war. Mitten in einem Wohnquartier.
Rahels Mutter bekam Temesta (ein Beruhigungsmittel) verschrieben, trank Likör und wurde von beidem abhängig. Der Vater zog zu einer Frau mit zwei Töchtern. Auch sein Leben sei begrenzt, schrie er beim Auszug. Das Warten treibe ihn in den Wahnsinn.
Im folgenden Winter wurde Mutter mit einer akuten Psychose in die Klinik eingewiesen. Rahel rief ihren Vater an und wollte ihm mitteilen, dass er sich nie mehr zu melden brauche. Es sei besser, keinen Vater zu haben als einen abwesenden.
Als sie den freundlichen Klang seiner Stimme hörte, begann sie zu schluchzen und hängte auf.
Neun Jahre nach Saras Verschwinden durchsuchte ein Wanderer namens Jost Gabathuler eine Hütte auf dem Obergrenchenberg. Er hatte sich Zutritt verschafft, um sich vor einem aufziehenden Wintersturm in Sicherheit zu bringen. Es war kalt, der Biswind jagte über die Höhen. Gabathuler suchte nach Wolldecken, damit er die Nacht überstand. Auf dem Boden eines mit Blumen bemalten Wandschranks fand er eine Plastiktüte, darin Saras Kleider. Als er bemerkte, dass es Frauenkleider waren, legte er die Tüte beiseite. Seiner Frau schrieb er eine SMS, es gehe ihm gut, er übernachte in einer gemütlichen Hütte.
Der Wind rüttelte an den Holzlatten, pfiff durch jede Ritze, Gabathuler fror und fürchtete sich vor einer Lungenentzündung. Mit dem ersten Morgenlicht stand er auf, räumte seine Sachen zusammen und verstaute sie im Rucksack. Er stand bereits in der Tür, als er innehielt, sich umdrehte und den Wandschrank anstarrte, in dem er die Plastiktüte verstaut hatte. Er öffnete den Schrank und holte die Plastiktüte hervor. Kleider einer mittelgrossen Frau, schlank, Schuhe, Unterwäsche. In der Hosentasche ein Haarband, eine Armbanduhr sowie ein leeres Portemonnaie. Im Schuh ein zusammengefaltetes Stück Papier, er öffnete es, eine Zahlenreihe war darauf gekritzelt. Er faltete das Papier wieder zusammen und steckte es zurück in den Schuh. Ein bedrohliches Gefühl, das er nicht einzuordnen vermochte, beschlich ihn. Er hatte das Bedürfnis, seine Frau anzurufen, aber der Akku seines Handys war leer.
Draussen schneite es, er ging aufs Geratewohl los, bis er auf eine Wanderwegtafel stiess. Er stapfte weiter durch den verwehten Schnee bis zu einem Ausflugsrestaurant, dessen Wirt er kannte. Dieser rief die Polizei und versorgte ihn mit Kaffee und Frühstück.
Jost Gabathuler hatte Hunger, aber keinen Appetit. Das Brot liess er stehen, ebenso den Käse.
Saras Überreste wurden am 4. Dezember 2008 unweit der Hütte gefunden. In einer unzugänglichen Nische der Kalkfelsen, geschützt von Tannen, zugedeckt mit einer dicken Schicht aus Steinen, Erde und Ästen. Anhand der Zahnstellung und eines DNA-Abgleichs wurde sie identifiziert. Der Fall Sara Zeittlinger wurde erneut aufgerollt. Als Experte für ungelöste Fälle übernahm Otto Schulze die Leitung – der Mann von Dorothea Schulze, geb. von Landenberg.
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