Imke Müller-Hellmann - Verschwunden in Deutschland

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Engerhafe, ein Flecken in Ostfriesland, 1944: Das Konzentrationslager der Nationalsozialisten liegt mitten im Dorf, ein abgelegenes Außenlager des KZ Neuengamme, errichtet für 62 Tage zum Bau des Friesenwalls. 2000 Gefangene, ausgesetzt der Kälte, dem Hunger und dem Prügeln der Wächter. 68 Polen, 47 Niederländer, 21 Letten, 17 Franzosen, 9 Russen, 8 Litauer, 5 Deutsche, 4 Esten, 3 Belgier, 2 Italiener, 1 Slowene, 1 Spanier, 1 Tscheche und 1 Däne sterben. Engerhafe heute: Ein Stein auf dem Friedhof erinnert an die 188 Ermordeten. `Wer ist hier begraben?´, fragt Imke Müller-Hellmann ihre Großmutter, die 1944 27 Jahre alt war und in unmittelbarer Nachbarschaft zum Lager lebte. `Die Großmutter schwieg und konnte sich den Namen nicht zuwenden´, sagt Müller-Hellmann, `aber ich kann es.´ Elf Familien der KZ-Opfer macht sie ausfindig. Sie reist zu ihnen nach Frankreich, Polen, in die Niederlande, nach Dänemark, Spanien, Lettland und Slowenien. Dort hört sie von Widerstandsgruppen und Partisanen, vom Spanischen Bürgerkrieg und vom Warschauer Aufstand, vom Schweigen in den Familien und dem Leid der Hinterbliebenen. Sie schreibt das Gehörte auf und gibt den Toten damit ihre Geschichten zurück. AUTORENPORTRÄT Imke Müller-Hellmann, geboren 1975 in Aachen, aufgewachsen in Köln. Sie studierte Diplom-Religionswissenschaft und Diplom-Pädagogik und arbeitete als Studienreiseleiterin, Dozentin für Alphabetisierung und als Jobcoach für Menschen mit Behinderung. Ihre Kurzgeschichten wurden mit Preisen und Stipendien ausgezeichnet. `Verschwunden in Deutschland´ ist ihr erstes Buch. Imke Müller-Hellmann lebt und arbeitet in Bremen.

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Imke Müller-Hellmann

Verschwunden in Deutschland

Lebensgeschichten von KZ-Opfern

Auf Spurensuche durch Europa

Saga

Ebook-Kolophon

Imke Müller-Hellmann: Verschwunden in Deutschland. © 2014 Imke Müller-Hellmann. Alle Rechte der deutschen Ausgabe © Osburg Verlag Hamburg [2015] www.osburg-verlag.de. Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen 2016 All rights reserved.

ISBN: 9788711449301

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com- a part of Egmont, www.egmont.com.

Engerhafe

Mein Urgroßvater hieß Detmer Ihnen Detmers. Er war ein Bauunternehmer, der Häuser baute und Särge, und er kam aus Münkeboe in Ostfriesland. Er ist 81 Jahre alt geworden und dann, 1959, an Blasenkrebs gestorben. Begraben wurde er auf dem Friedhof in Münkeboe und man gab ihm einen Grabstein mit seinem Namen. Im selben Grab liegen die sterblichen Überreste sechs weiterer Menschen, Menschen, die noch Kinder oder schon Frauen waren, als sie starben, ihre Namen stehen nicht auf dem Grabstein. Es waren seine beiden Frauen Elsche Detmers, geborene Henning, die jung an Tuberkulose erkrankte, und seine zweite Frau Auguste Detmers, geborene Siekmann, die als Diakonissin seine erste Frau in ihrer Krankheit und ihrem Sterben gepflegt hatte. Auguste wiederum starb mit 67 Jahren an den Folgen eines Unfalls, bei dem Detmer Ihnen im Garten von einem Baum gestürzt und auf sie gefallen war. Drei Kinder von Detmer und eine Enkelin mussten auch noch vor ihm in das Grab, das seinen Namen trägt: drei Söhne, die er alle Ihne genannt hatte, und von denen keiner die ersten Jahre überlebte, und eine Tochter meiner Oma, die tot zur Welt kam, sie blieb ganz ohne Namen.

In dem Haus mit dem Garten, wo mein Urgroßvater auf meine Urgroßmutter fiel, ist meine Großmutter zur Welt gekommen. Am 28. März 1917 erblickte sie das Licht Ostfrieslands, ein Flecken Land zwischen Ems und Jade, flach und weit mit schrägen Bäumen und geraden Windmühlen, die dem Wind trotzen, der beständig vom Meer herüberweht. Das Land gehört zu den Wolken und den Kühen und die gehören zu den Bauernhöfen mit den tief gezogenen Dächern und die wiederum zu den Menschen mit den Holzclogs, die eine eigene Sprache haben und gerne Tee trinken, genau genommen 2,5 Kilo pro Kopf und Jahr, das ist zehnmal so viel wie hinter den Mooren, weiter südlich in Deutschland.

Als die Moore im Süden und das Meer im Norden dieses Stück Land noch gut umschlossen, hatte erst Radbod das Sagen, der großfriesische König. Nach dem kam Karl der Große und mit ihm der christliche Glaube, den Luidger und Willehad verbreiteten. Dann kamen die Redjeven, die Rechtsprecher und Ratsmänner, dann die Hovedlinge, die Häuptlinge, dann die Grafen, die Fürsten, die Preußen, schließlich Kaiser Wilhelm II. und dann der Führer.

Als meine Großmutter in diesem Stück Land ins Leben eintrat und noch nicht verstrickt war in die politischen Ereignisse und noch keinen Bluthochdruck hatte von 2,5 Kilo Schwarztee im Jahr, waren Lüdde, Anni und Minni schon da. Besagte Auguste Detmers, geborene Siekmann, ehemalige Diakonissin, kam also doch zu dem eigentlich in ihrem Leben nicht vorgesehenen Zustand, meine Großmutter Elli, die nach der ersten Frau ihres Vaters Elsche genannt worden war, aus ihrem Körper zu pressen. Es wurde in der Familie üblich, kürzlich Verstorbene aus den eigenen Reihen durch die Weitergabe ihrer Namen an Neugeborene in Erinnerung zu behalten und sie so zu ersetzen. Nun hatte Detmer also wieder eine Elli.

Elli heiratete Adolf Janssen Müller. Adolf war auch das Kind einer zweiten Frau. Diese war Altje Müller, die ihren unehelichen Sohn Klaas in die Ehe mit Johann Müller brachte, der wiederum schon vier Kinder aus erster Ehe hatte: Johann, Bole, Herti und Hima. Altje und Johann bekamen noch einmal fünf Kinder zusammen: Johanna, Maria, Adolf, Okkeline und Etta. Altje war sich sicher, dass Adolf auch eine Tochter werden würde und wollte diese nach sich selber benennen, aber es wurde ein Sohn und aus dem Namen Altje wurde der Name Adolf. Das war 1914.

30 Jahre später kam mein Vater zur Welt, sie haben ihn auch Adolf genannt, das war 1944. Adolf Detmer. Sein Vater Adolf Janssen war im Krieg an der Ostfront und so hatte Elli wieder einen Adolf. Adolfs Kinder fanden diesen Namen in unterschiedlichem Ausmaße merkwürdig bis unangenehm, Adolf selber nicht. Dieser Name stehe für seinen Vater und nicht für ihren Führer, so erklärte er, und das erklärte er auch in der Zeit, 25 Jahre nach seiner Geburt, in der strukturelle Parallelen zwischen Vätern und Führern in seiner Generation vermehrt diskutiert wurden. Adolf jedoch wohnte diesen Gesprächen nicht bei und so blieb ihm das gute Gefühl zu seinem Namen erhalten.

Zwischen 1940 und 1948 lebte meine Großmutter in Engerhafe, einem kleinen Ort am westlichen Rand der ostfriesischen Geest der Gemeinde Südbrookmerland. Dort hatte der Häuptling Keno tom Brok seinen Sitz auf einer Burg ganz in der Nähe gehabt. Sein Sohn Ocko tom Brok dehnte seine Macht auf beinahe ganz Ostfriesland aus, aber das gefiel den freiheitsliebenden Ostfriesen nicht, und auch nicht den konkurrierenden Häuptlingen, und so kam es unter Häuptling Focko Ukena am 28. Oktober zur »Letzten Schlacht auf den Wilden Äckern«. Das war 1427. 506 Jahre später hatten die Ostfriesen, und nicht nur die, wieder einen Häuptling, mit einem anderen Namen, jetzt sagte man »Führer«. Dieser befahl am 28. August 1944 den Bau des »Friesenwalls«, der die gesamte Nordseeküste in zwei Stellungen gegen eine befürchtete Invasion schützen sollte. Geplant waren Wälle an der Küste, Unterstände direkt am Seedeich, und Kanonenstände und Panzergräben im Hinterland. Die Panzergräben sollten oben vier bis fünf Meter breit werden und an der Sohle 50 Zentimeter. Und sie sollten bis zu drei Meter tief in die Erde gegraben werden.

Elli lebte an diesem 28. August 1944 an der Ostseite der Kirche, ein wenig links, wenn man abgebogen ist. Es ist eine alte Kirche, eine einschiffige, hoch aufragende Anlage aus dem 13. Jahrhundert, die auch schon der »Schlacht auf den Wilden Äckern« gleichmütig zugesehen hatte. An der Nordseite der Kirche, über die Straße hinweg, im Gelände des Pfarrgartens, wurde von Oktober bis Dezember 1944 ein Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme errichtet, ein oder zwei Steinwürfe von dem Haus an der Ostseite entfernt. 2200 Männer wurden in fünf unbeheizten Baracken zusammengepfercht, in denen lediglich die dreistöckigen Betten Platz hatten, die sich jeweils zwei bis drei Männer pro Strohsack teilten. Die notdürftig bekleideten und ausgehungerten Häftlinge mussten den Zaun ziehen, der sie einsperrte, und die Wachtürme bauen, mit denen man sie bewachte. Dann marschierten sie jeden Morgen um sechs zum Bahnhof Georgsheil, fuhren in Güterwagen nach Aurich und liefen durch Aurich hindurch zur Arbeitsstelle. Dort gruben sie die bis zu drei Meter tiefen Gräben in den nassen Kleiboden, standen stundenlang bis zu den Knien im Wasser, waren Regen, Schneeregen und Sturmböen in ihren zerrissenen Lumpen ausgesetzt. Wer zusammenbrach, wurde geschlagen, bis er weitermachte oder nicht mehr weitermachte. Auf dem abendlichen Rückmarsch mussten die Überlebenden ihre toten und halbtoten Kameraden mitschleppen. Weil sie selber keine Kraft mehr hatten, zogen sie die ausgemergelten Körper an den Füßen hinter sich her, sodass die Köpfe immer wieder auf das Pflaster schlugen. Die Lumpen rutschten dabei über die Gesichter und verbargen die verhungerten Körper nicht mehr.

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