„Trotzdem! Ich bin sicher, dass er mitmachen wird. Wie ist es eigentlich bei Dir? Bist Du Dir über die möglichen Konsequenzen im Klaren? Wenn es schief geht, kann es auch für Dich böse Folgen haben.“
Sie gingen weiter zu einem Gemischtwarenladen auf der anderen Straßenseite. Als sie vor dem Schaufenster standen, sagte Chris:
„Onkel! Hör’ auf mit den Unkenrufen. Wir hängen schon so tief drin. Was soll’s. Zu Hause leben wir in Ruhe und Sicherheit. Wenn ich an die armen Leute hier im Busch denke, wird mir übel. Von Tag zu Tag werden es weniger. Unsere Hilfe hier ist nützlich, oder denkst Du anders?“
„Nein, nein! Nur: es kann ins Auge gehen. Es kann ganz heftig ins Auge gehen. Auch für uns. Vergiss das nicht. Aber ich denke auch, dieses Risiko sollten wir auf uns nehmen. Ich wusste, dass Du so denkst. Ich wollte es nur noch einmal aus Deinem eigenen Mund hören. Also: Augen zu und durch. Es wird vielleicht gefährlich werden, aber...“
„Was aber?“
„Es hört sich seltsam an. Wir versuchen, etwas Sinnvolles für Andere zu tun. Es macht mich glücklich.“
„Das ist gut so. Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss!“
„Denn man los! Aber zuerst in das Geschäft. Wir brauchen noch Nassrasierer, Seife, Nähnadeln und Nähgarne in allen Farben.“
„Warum Nähnadeln und Garne?“ fragte Chris
„Unsere Freunde sind derartig abgemagert, dass die vier Frauen mit dem Kürzen und enger Nähen viel zu tun haben werden.“
Nach den Einkäufen fuhren sie zurück zum Reisebüro .
*****
Herr Lia Thao hatte sie offenbar schon erwartet. Auf dem kleinen Tischchen, vor dem er jetzt saß, dampfte in drei winzigen Tassen grüner, chinesischer Tee. Er bat, Platz zu nehmen
„Darf ich Sie, bevor ich ihnen meine Entscheidung mitteile, etwas fragen?“
„Gerne.“
„Warum wollen Sie Sich überhaupt einmischen?“
Sie sahen sich sprachlos an. Gerhard antwortete: „Diese Frage überrascht uns. Ich denke, Sie kennen die Situation dieser Leute. Wir wollen ihnen helfen. Von Soldaten wurden, kurz bevor wir zum ersten Mal dort waren, vier Leute getötet. Drei Frauen und ein Kind.“
„Waren es uniformierte Soldaten?“
Gerhard schluckte. „Wir haben die Soldaten nicht bei dem Überfall gesehen. Sie hatten die Straße abgesperrt. Diese Toten haben nie etwas mit den Amerikanern oder dem ehemaligen König zu tun gehabt. Sie waren viel zu jung damals, wenn sie überhaupt schon gelebt haben. Es ist ein Verbrechen, was da geschieht.“
Er zeigte auf Chris. „Mein Neffe hier war dabei.“
Chris übernahm das Gespräch. „Ja, ich war dabei. Es war der reinste Horror! Wenn wir ihnen nicht helfen, wer sollte ihnen dann helfen. Aus eigener Kraft können sie dem Elend dort nicht entkommen. Stimmen Sie uns nicht zu, Herr Lia Thao?“
„Diese H’mong haben sich schuldig gemacht!“
„Nicht die Frauen, Kinder und jungen Leute. Sie hätten diese Leute sehen müssen; sie sind völlig unterernährt. Sie haben zum Essen nur Reis, Wurzeln und diese roten Nüsse. Viele sind krank. Sie haben keine Kraft mehr und sind dauernd auf der Flucht. Das ist kein menschenwürdiges Leben. Sie wollen aus dem Busch raus und sicher leben. Die Kinder sollen zur Schule gehen können. Ich denke, das ist wirklich nicht zuviel verlangt.“
„Ich habe mich entschlossen, meinen Leuten und Euch zu helfen. Aber ich kann Euch nur bis zum Fluss bringen. Wie Ihr dann weiterkommt, ist allein Eure Sache. Unterschätzt die thailändischen Grenzkontrollen nicht. Die patrouillieren sogar nachts, und auch auf dem Fluss. Es kann sehr gefährlich werden; auch für Euch als Ausländer.“
„Das ist uns klar.“
„Wie habt Ihr Euch nun genau das Ganze vorgestellt?“
„Können wir morgen früh noch mal vorbei kommen; dann werden wir über Einzelheiten sprechen. Wann öffnen Sie Ihr Reisebüro?“
„Um neun Uhr.“
„Gut, dann sind wir um neun hier, morgen früh.“
Sie verabschiedeten sich, und verließen das Zimmerchen.
*****
Sie gingen ins Hotel zurück. Als sie im leeren Restaurant saßen, fragte Chris:
„Wie wollen wir genau vorgehen?“
Der Kellner brachte die Speisekarte und stellte unaufgefordert zwei Flaschen Bier auf den Tisch.
„Guter Service, Danke.“ Gerhard grinste. „Am besten trennen wir uns. Einer geht nach Thailand und mietet gegenüber von Muang Paxxan möglichst nahe am Fluss ein alleinstehendes Haus an.
„Wer fährt nach Thailand?“,fragte Chris.
„Ist mir egal – würfeln wir?“
„Wir haben keine Würfel.“
„Gut, dann Schere, Stein, Papier. Wer gewinnt, fährt oder fliegt morgen Nacht.“
Gerhard gewann die Tour direkt zurück nach Thailand, und Chris lachte. „Glückspilz! Die Damen dort sind besser.“
Gerhard wurde wieder ernst. „Der, der mit den Leuten kommt, besorgt ein Boot und bei Nacht geht es über den Fluss. Es wird eine kurze Fahrt sein. Die Leute bleiben in diesem Haus in Thailand. Sie sind genügsam. Wir kaufen für sie Nahrungsmittel ein, und fahren nach Bangkok.“
„Die Leute sollen in diesem Haus warten?“
„Richtig. In Bangkok gehen wir zur deutschen Botschaft und zum UN-Gebäude. Dort sehen wir weiter.“
„Wir können auch zur französischen Mission und zur EU Botschaft gehen. Die haben sicherlich eigene Vertretungen in Bangkok.“
„Oder auch zu den Amerikanern. Die haben, als sie sich aus Vietnam verabschiedet haben, etliche H’mong und deren Familien in die USA mitgenommen. Deswegen gibt es auch in den USA einige H’mong Gemeinden. Wenn dort Verwandte leben, können einige vielleicht dorthin.“
Der Kellner kam, um die Bestellungen entgegen zu nehmen.
„Für mich ein Pfeffersteak, und roten Reis, bitte,.“bestellte Chris.
„Haben Sie auch grünen Reis?“ fragte Gerhard den Kellner.
Der schaute ihn überrascht an. „Ja mein Herr, aber Ausländer essen immer weißen Reis.“
„Trotzdem, und auch ein Pfeffersteak. Ich muss testen.“
„Sehr wohl mein Herr, danke.“Der Kellner ging.
Gerhard wandte sich wieder an Chris. „Wenn in den USA Mexikaner eingebürgert werden, die nichts für die Amerikaner getan haben, warum nicht noch ein paar von denen, deren Vorfahren geholfen haben. Sie haben schließlich ihr Leben riskiert. Bei den Franzosen ist es ähnlich. Einige H’mong wurden in französisch Guayana angesiedelt.“
Der Kellner brachte die dampfenden Speisen und zwei weitere Flaschen Bier. Chris nickte dankend und ass zuerst von seinem Reis.
„Also roter Reis schmeckt wie normaler Reis. Und Deiner?“
Gerhard probierte von seinem Reis und wartete etwas mit seiner Antwort. „Ich würde sagen, hmm, hmm, leichtes Waldmeisteraroma.“
Chris machte große Augen. „Lass probieren.“ Er steckte seine Gabel in Gerhard Reis. Er schob die Gabel in den Mund. „Dann schmeckt meiner nach Erdbeeren. Gaukler, Possenreißer! Schabernacktreiber. Du denkst, mit mir kannst Du’s machen. Nur weil ich jung bin. Alter Sack, Prost!“
„Prost.“
„Färben die den Reis?“
„Nein, er wächst so.“
„Einfach so?“
„Einfach so!“
Sie aßen weiter. Das Pfeffersteak schmeckte, wie Pfeffersteaks immer schmecken. Der Kellner räumte das Tischgeschirr ab. Chris sagte: „Vorzüglich, das Bier!“
Der Kellner sah ihn mit einem schiefen Grinsen an. „Danke.“
Als er fort war, nahm Gerhard das Gespräch wieder auf.
„Wenn uns das bei Franzosen und Amerikanern nicht gelingt, versuchen wir das UNHCR dazu zu bewegen, den Leuten Flüchtlingspapiere auszustellen, und eine offizielle Nummer zu verpassen. Die Leute sind damit aus dem Schneider, und dürfen nicht mehr abgeschoben werden.“
„Wenn das nur mal so einfach wäre, wie es klingt!“
Chris bestellte neues Bier.
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