Gebhard Friebel
Die Frau im Schnee
Kurzgeschichten
Universal Frame
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Copyright ©2016
Titelgestaltung Werner Hense
Titelfoto: © snowzilla
Universal Frame Verlag GmbH, Zofingen
ISBN 9783905960839
Er hing mit dem Gesicht fast an der Scheibe.
Im Radio hatten eine Wetterwarnung durchgegeben: „Es ist vereinzelt mit Schneeregen zu rechnen. Fahren Sie bitte langsam. Stellen Sie sich mit Ihrer Fahrweise auf Straßenglätte ein.“
Aber er musste noch heute nach Dudweiler – nur zehn km werden leicht zu schaffen sein. Eine halbe Stunde maximal. Der Kunde wollte die Versicherung abschließen.
Er verringerte die Geschwindigkeit – 15 km zeigte der Tacho an. Er überlegte kurz – sollte er zurückfahren? Nein.
Der Niederschlag war in Schnee übergegangen. Die Dämmerung war der grauen Nacht gewichen.
Wenn es nur nicht anhält, dieses verdammte Wetter.
Seine Augen wurden müde. Er blinzelte in die Nacht, die langsam die Oberhand gewann.
Da sah er sie am Straßenrand stehen. Der rechte Arm war ausgestreckt, die kleine Faust geballt und der Daumen nach oben gestellt.
Normalerweise nahm er keine Tramper mit, aber heute hielt er ausnahmsweise an.
„Ich fahre nach Dudweiler, Sie können ein Stück mitfahren“, sagte er mit fester Stimme.
Sie nickte, stumm, öffnete die Beifahrertür. Er sah sie genauer an. Tränen liefen ihr über die Wangen, aber sie setzte sich schnell auf den Beifahrersitz und wischte sich mit einem Taschentuch energisch die Augen trocken.
Sie drehte sich zum rechten Fenster, sah hinaus.
Er gab Gas, wurde aber sofort wieder langsamer. Die Räder hatten durchgedreht – langsam, langsam. Sonst kommst Du nie an.
Er sah ihr direkt in die Augen, als sie sich ihm zuwandte und mit weinerlicher Stimme sagte „Mein Mann hat mich wieder geschlagen. Ich kann nicht mehr zurück.“
„Ich werde sie bei der Polizei raus lassen“
„Nein, nicht die Polizei. Die bringen mich doch wieder zurück, und dann geht der Mist von vorne los.“
„Aber es wird Nacht – gut, Sie können noch etwas warten, wenn ich meinen Kunden berate. Aber eine Stunde, dann werde ich Sie rauswerfen. Ich muss heim.“
Nach zehn Minuten fuhr er rechts ran und stieg aus. Ein Blick auf die Armbanduhr: halb sieben
„Bis gleich, dann ist Sense, so oder so.“
Der Kunde war nicht zu Hause. Er schellte auch an den beiden anderen Hausklingeln. Nichts. Wie ausgestorben das Haus.
Er kam zum Auto zurück und setzte sich auf den Fahrersitz. „Ich warte jetzt noch eine viertel Stunde. Der Kunde wird sich verspätet haben,. Dann fahre ich Sie zur Polizei. Ich muss nach Hause.“ Seine Stimme klang entschlossen.
Sie schluchzte lauter und schüttelte sich.
Unter Tränen stammelte sie: „Kann ich noch eine Stunde warten – hier im Auto?“
„Es ist zu kalt, sie werden sich erkälten.“
„Das ist egal“, stammelte sie.
Er sagte bestimmt: „Nein, das ist nicht egal.“
Er betonte das „nicht“. Seine Stimme klang gereizt, vielleicht zu gereizt.
Aber das war jetzt auch gleichgültig. „Ich muss nach Hause. Gleich.“
„Und wenn Ich mit Ihnen komme. Ich werde Ihre Frau nicht stören“
„Ich habe keine Frau mehr – ich bin seit zwei Jahren geschieden“
„Oh, das tut mir leid.“
„Das braucht Ihnen nicht leid zu tun. Sie ist weg, weg mit einem anderen.“
„Kann ich nicht doch mit Ihnen kommen, nur für eine Stunde. Vielleicht – vielleicht weiß ich dann, was ich tun soll.“
„Na ja, ist ja auch egal. Wenn Sie unbedingt wollen, können Sie mitfahren.“
Eine halbe Stunde später waren sie vor seinem Haus angekommen.
Der Schnee fiel inzwischen dichter, noch dichter und bildete eine geschlossene Schneedecke. Er hielt langsam an, ließ den Wagen ausrollen.
Beide stiegen vorsichtig aus.
„Ich gehe voran“, murmelte er. Sie nickte, umrundete das Auto und folgte ihm.
Sie betraten das Haus – es war gut beheizt.
Er knipste in Diele und Wohnzimmer das Licht an.
Sie betraten das Wohnzimmer. „Kommen Sie“, sagte er, als er sah dass sie zögerte.
„Hier“ Er ging voran
„Mein Gott, Sie haben ja nasse Haare“ Sein prüfender Blick glitt an ihr herunter.
„Und ihr Kleid ist auch nass.“
Er ging ins Badezimmer und kam mit einem frischen Handtuch zurück.
„Trocknen Sie Ihre Haare – Sie holen sich ja den Tod“.
„Nein, kommen Sie mit ins Badezimmer und ziehen sie sich den Bademantel über. Das ist besser.“
Nach fünf Minuten im Badezimmer erschien sie wieder. In seinem Bademantel.
„Ich habe mein Kleid über den Heizkörper gelegt. Zum Trocknen“
Die Haare standen ihr zu Berge. Offenbar hatte sie sie trocken gerubbelt.
„Sie sind ein guter Mensch“, sagte sie, als sie neben ihm stand. Ein schüchternes Lächeln stand ihr im Gesicht. „Ein guter Mann! Mein Mann schlägt mich immer wieder, besonders wenn er betrunken ist. Und er ist oft betrunken – er ist arbeitslos. Schon seit zwei Jahren. Ich halte das nicht mehr aus, nicht mehr.
Kann ich mich setzen?“
„Bitte, entschuldigen Sie, ja, selbstverständlich“
Als sie saß, musterte er sie verstohlen. Das Gesicht war passabel, nicht ohne Reize. Kurze rehbraune Haare. Dunkelbraune Augen. Ihre Grösse schätzte er auf 1,65. ihr Alter auf etwa dreissig Jahre. So musste jetzt seine Frau wohl ähnlich aussehen, aber sie war weg. Er hatte sie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen, seit sie in diese Kleinstadt in Süddeutschland gezogen war. Zu ihrem neuen Freund – oder inzwischen ihrem Mann. Zuzutrauen war es ihr, dass sie inzwischen wiederverheiratet war, ohne ihn verständigt zu haben.
Er setzte sich in den großen Sessel – seinen Lieblingssessel.
„Wollen Sie etwas trinken?“
Sie zögerte.
„Tee, Wasser, Bier, Wein?“
„Wasser“
Sie stand auf, er ebenfalls.
„Bitte bleiben Sie sitzen. Ich hole Wasser. Ist das die Küche?“
Sie zeigte zur Küchentür und sah ihn an. Er nickte. Sie verschwand in der Küche. „Wollen Sie auch was?“, rief sie.
Ja, ein Bier. Ist im Kühlschrank.
Er hörte sie hantieren. Die Kühlschranktür öffnete sich und fiel wieder zu.
Sie kam zurück ins Wohnzimmer und stellte eine Flasche Bier und ein Glas vor ihn auf den großen Tisch. Dann ging sie noch einmal und kam mit einem Glas Wasser zurück. Sie setzte sich und sah zum Boden.
„Sie sind ein guter Mann. Dass ich Sie heute hier überfalle, tut mir leid. Ich konnte nicht mehr zu Hause bleiben. Sehen Sie.“ Sie hob die Haare über dem rechten Auge. Er sah die blutunterlaufene Schwellung. Dick, unübersehbar, sehr dick.
„Wir sollten Sie ins Krankenhaus bringen. Vielleicht ist etwas gebrochen oder Sie haben eine Gehirnerschütterung. Für alle Fälle.“
„Nein, das ist nicht nötig. Danke. Er schlägt mich öfter. Überall hin. Sehen Sie.
Hier und hier und hier.“
Sie zeigte auf mehrere Stellen an den Armen.
„Deshalb kann ich nicht mehr zurück.“
„Es gibt irgendwo ein Haus für misshandelte Frauen. Wenn es zu schneien aufhört, werde ich Sie dorthin bringen, wenn Sie nicht zur Polizei wollen. Das ist die beste Lösung. Oder haben Sie sonst jemanden“
„Ja, Anna, meine beste Freundin. Ich habe auch eine Tante in Frankfurt. Die würde mich auch aufnehmen. Dort könnte ich bleiben, auch länger, wenn es sein müsste.“
Sie schwiegen beide.
Er stand auf und schaute zum Fenster hinaus. Immer mehr Schnee.
„Jetzt fahren zu wollen, wäre Wahnsinn. Ich habe oben ein Gästezimmer, da können Sie über Nacht bleiben, wenn Sie wollen. Bis morgen früh, dann müssen Sie gehen.“
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