1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 »Wir müssen der Geschichte natürlich nachgehen. Und setz dich mit einem Experten für arabische Sprache und Kultur in Verbindung«, verlangte Kaiser, während der Welpe fiepte und sie daran erinnerte, dass sie noch eine Verantwortung übernommen hatte.
Der glückliche Krüppel der Woche wohnte auf einem Hof in True.
Als der Auftrag kam, hätte er fast Nein gesagt. Hätte ihnen erzählt, dass er eigentlich schon nicht mehr da war, auf dem Weg nach Pakistan, um eine Fotoserie über islamische Extremisten für Magnum zu machen und im Übrigen müsse er heute Vormittag zur Anprobe einer schusssicheren Weste. Aber das wäre natürlich gelogen. Es gab keinen Auftraggeber, der irgendetwas bestellt hatte. Und er hatte auch nicht die Mittel für eine schusssichere Weste, sondern musste sich mit der alten begnügen, die viel zu klein war und die er gebraucht von Hans Larsen gekauft hatte, der eine lukrative Vereinbarung mit der Avisen getroffen hatte und in einen vergoldeten Ruhestand gegangen war. Außerdem war er mit den Zahlungen für das Auto im Rückstand und hatte zurzeit ganz allgemein ein etwas angespanntes Verhältnis zu dem Dispo-Kredit, sodass der Auftrag von dem Wochenblatt auf einen Boden fiel, der so trocken war wie die Wüste in Afghanistan. Die Freiberuflichkeit war nicht immer so frei, wie das Wort vermuten ließ.
Bo legte einen Film in die Kamera ein und warf sie auf den Beifahrersitz, wo sie zwischen Verpackungen von gebrauchten Filmen, ein paar Legosteinen aus der Spielzeugsammlung der Kinder und einem Führer über Ostjütland landete, der so abgenutzt war, dass der Rücken sich auflöste, und von dem mehrere Seiten mit Cola mariniert waren. Gar nicht erst zu reden von den Krümeln der vielen Brötchen und Kekse, die er seit dem letzten Reinemachen im Auto gegessen hatte. Was ungefähr ein Jahr her war.
Während er fuhr, spürte er, wie der innere Bär sich rührte. Die Bezeichnung war nicht gut, aber er wusste nicht, wie er ihn sonst nennen sollte. Natürlich würde nie jemand davon erfahren, denn es war lächerlich, das wusste er sehr gut, und dass er sie sich von Brad Pitt aus den »Legenden der Leidenschaft« geklaut hatte, machte die Sache nicht weniger peinlich.
Aber trotzdem wusste er, dass er es nicht einfach ignorieren konnte, wenn der innere Bär in seiner Höhle erwachte. Dann wollte er gefüttert werden. Mit Spannung. Mit Herausforderungen. Mit einem Auslandstrip nach Turkmenistan oder Bolivien, um die Kinder auf den Müllplätzen zu fotografieren, oder nach Sierra Leone, um Bilder von Menschen zu machen, denen von den Aufständischen Arme und Beine abgehackt worden waren. Irgendwohin weit weg. In eine Welt ohne Fensterkuverts, langweilige Routineaufgaben und anstrengende Journalisten, die glaubten, sie könnten schreiben wie Hemingway und auch noch Anweisungen geben, wie der Fotograf sein Bild zu machen hatte.
Sein Handy klingelte, während er bei Rot an einer Kreuzung in Skejby hielt. Der Laut brachte ihn zurück nach True und zu der Geschichte von dem Mann im Rollstuhl, der eine Million im Lotto gewonnen hatte. Sein Nachbar, ein Schweinebauer, hatte angerufen und die Geschichte erzählt, und der Lottogewinner war leicht zu einem Interview zu überreden gewesen, stand in der Notiz, die zusammengeknüllt in seiner Tasche lag. Eine richtig gute Geschichte für das Familienblatt, dessen Leser Berichte über Krankheiten in der Version »trotz allem glücklich« liebten.
»Wo bleibst du?«, fragte die Journalistin in seinem Ohr. Er hatte ihren Namen vergessen; Marie irgendwas. Natürlich hatte er schon früher mit ihr gearbeitet, aber sie gehörte nicht zu denen, an die man sich so einfach erinnerte. Nicht wie die andere. Die mit dem Dildo. Sie war in einer Blase durch seinen Kopf geschwebt, seit er ihr begegnet war.
»Ich bin unterwegs. Bin in zwei Minuten da«, versprach er und unterbrach die Verbindung.
Der Bär machte einen Moment dem Bild von Dicte Svendsen Platz, wie er sie auf dem Foto der Freundin gesehen hatte. An einem Tisch in einem Straßencafé mit einem genoppten Dildo in der Hand. Es war ein gutes Bild, das musste man der Freundin lassen. Sie hatte das eingefangen, was man nicht unmittelbar sah. Das Mädchenhafte und doch Erwachsene. Im Sommerkleid, das dicke Haar in der leichten Brise flatternd, sodass die Konturen einer eventuellen Frisur aufgelöst und zu einer asymmetrischen Wolke mit einem Streifen Sonne wurden. Mit dunklen, ungezupften Augenbrauen als Kontrast zu dem blonden Haar. Und Augen, in denen sich die Sorge niedergeschlagen hatte, die jedoch gerade in diesem Moment von einem neugierigen Lachen vertrieben wurde.
Bo seufzte. Früher hatte er die mageren Kleiderständer bevorzugt. Aber das war, bevor er das Geniale an Formen entdeckt hatte. Bevor er jemals seine Hände über runde Hüften und Brüste hatte gleiten lassen, die man mit einer sehr hohlen Hand umfassen konnte. Es hatte eine Zeit gegeben, da war er für das Perfekte gewesen. Aber das war, bevor er eine Überdosis davon bekommen und bevor der Charme des leicht Unperfekten sich ihm erschlossen hatte. Perfekt war einfach langweilig, fand er. Er war kühler, schöner Fassaden mehr als überdrüssig und zog Schönheit mit kleinen Makeln vor. Wie die kleine Narbe auf der Lippe der Journalistin. Und die kleinen Schweißtropfen, als hätte sie gerade einen ganzen Tag in einem goldenen Kornfeld verbracht.
Die reinste Rosamunde Pilcher.
Okay, es konnte schon sein, dass er ein bisschen übertrieb, dachte er und bog im dritten Gang nach rechts ab. Aber er war auch hungrig. Weil alles, sein ganzes Leben, sich zurzeit auf Kinder und Arbeit und Verantwortung konzentrierte.
In der Kurve waren ein paar lose Filme auf den Boden gerollt. Die Kamera auf dem Beifahrersitz war auf die Seite gefallen. Er griff danach und legte sie sicherer hin, während er seinen Gedanken freien Lauf ließ.
Die andere, das Adoptivkind, war auch nicht uninteressant, aber nicht sein Typ. Sie war freundlich, das ja, aber sie gehörte bestimmt zu denen, die keinen Deut nachgaben, folgerte er und glitt nahezu wie von selbst in die Rolle des Sherlock Holmes, die er Frauen gegenüber, die er nicht kannte, immer annahm. Anne Skov Larsen war ein verschlossener Typ, vermutete er. Sie war nicht direkt hart, umgab sich aber mit einer Schale aus etwas Unnahbarem, die bestimmt nur sehr wenige Männer zu knacken vermochten. Er konnte sie sich gut als Hebamme vorstellen; so eine, die bestimmte, was zu tun war. Aus dem gleichen Grund dachte er, dass ihr Mann aus einem starken Stoff gemacht sein musste. Entweder das, oder er würde total den Überblick verlieren und alle Entscheidungen einfach ihr überlassen.
Er bog ab und musste anhalten, um auf die Karte zu sehen. Fuhr an dem alten Skejby vorbei zu der Kreuzung Herredsvej/Mariendalsvej. Vorbei an einem Feld mit vom Wind zerzausten Pferden auf der einen und Vorstadtvillen auf der anderen Seite des Weges, im Grenzgebiet zwischen Stadt und Land. Er dachte kurz an die Dritte. Die Schwangere mit dem Film.
Unruhige blaue Augen und Hände, die auf Wanderschaft gingen. Ein lebhafter Mund mit Lippen, die bestimmt leicht lächelten, an diesem Tag aber nur gezittert hatten.
Er schüttelte über sich selbst den Kopf. Konnte nicht ganz erklären, warum ihm die drei Frauen nicht aus dem Kopf gingen. Als hätte er nicht genug Frauen, an die er denken musste. Eva, um nur ein zufälliges Beispiel zu nennen. Eva, die nach sieben Jahren und zwei Kindern langsam zu einer ganz anderen geworden war. Und Cecilie, oh Gott, die neue Sportjournalistin der Zeitung. Jung und stark, mit kurzem, blondem Haar, einem klasse Arsch und einem natürlichen Verhältnis zu Sex. Ohne jegliche Hemmungen. Aber auch ohne Geheimnisse, soweit er das beurteilen konnte.
Der Gedanke an das andere Geschlecht im Allgemeinen und an bestimmte genannte Personen im Besonderen brachte ihn nicht ins Schwitzen. Vielleicht sollte er es ganz lassen. Mönch werden. Nach Thailand reisen und in ein buddhistischen Kloster eintreten. Ganz ehrlich, war er Sex und so etwas nicht bald entwachsen?
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