„Hilf uns!“ flehte Malindi.
Er blickte auf die Nadel und zuckte abermals zusammen, als sie immer stärker zu zittern begann. Als wieder ein Blitz niederfuhr und der Donner in ihren Ohren wild und tosend rumorte, drehte sich die Nadel wie verrückt im Kreis und fand nur sehr schwer in ihre übliche Lage zurück.
Über das blanke Meer fuhr ein Lufthauch, der es nervös kräuselte. Winzige Trichter erschienen im Wasser und drehten sich rotierend um ihre eigene Achse. Dem Lufthauch folgte ein wilder Atem, der wütend über die gekräuselte Oberfläche blies und sie weiter aufwühlte.
Nach dem dritten Blitz mit seinem ohrenbetäubenden Krachen und Donnern begann es über der See zu rauschen.
Eine Wasserwand rückte auf sie zu wie eine dunkelgraue Mauer, die sich aus dem Meer erhob.
Der Regen prasselte nur so nieder. Wind fuhr in ihn hinein und trieb ihn fast waagerecht über das Wasser. Der Regen tat weh, obwohl er lauwarm war. Er bohrte sich scharf in die Haut und peitschte sie wild.
Chandra und Malindi lagen jetzt zusammengekauert unter den Duchten und wagten nicht, sich zu rühren.
Der Regen rann über ihre Körper und sammelte sich im Boot. Es schien kein Ende mehr zu nehmen.
Noch schärfer wurde der Wind. Er fuhr mit tausend Armen über das Wasser, das in immer stärkere Bewegung geriet und sich zu hohen Wellen auftürmte. Das Boot begann wild zu schaukeln.
Die beiden Inder ließen alles über sich ergehen. Sie hatten keinerlei Erfahrung auf See und wußten nicht, wie sie sich verhalten sollten.
An Land wären sie einfach in die nächste Hütte gerannt, um sich darin zu verkriechen. Hier konnten sie aber nur kauern und warten, bis alles vorbei war.
Das Boot schlingerte jetzt so wild, daß sie sich verzweifelt an die Duchten krallen mußten. Es legte sich weit über, und jedesmal schoß ein dicker Wasserstrahl hinein. Schon nach kurzer Zeit schwamm die kleine Gräting auf, weil sich unter ihr ein kleiner See gebildet hatte.
Sie merkten nicht, daß sie laut brüllten und heulten. Sie flehten alle Götter an, und sie schwiegen erst dann entsetzt, als ein unglaublich harter Schlag das Boot erschütterte und halb auf die Seite warf.
Da nahm Malindi an, sein und Chandras letztes Stündlein habe geschlagen.
Das Boot torkelte hilflos durch die See, gepeitscht vom Wind und vom fauchenden Regen, hochgeworfen von den sich auftürmenden Wogen und wieder in tiefe Wellentäler zurückgeschleudert. Jedesmal krachte und knackte es, als würde das Boot sich auflösen.
Sie scheuerten sich die Hände wund, ihre Knie bluteten, und mehr als einmal schluckten sie salziges Wasser, das im Hals brannte und Übelkeit erzeugte.
Stundenlang ging das so. Sie hoben aus lauter Angst nicht mal die Köpfe. Sie waren fertig und erledigt und fest davon überzeugt, jeden Augenblick sterben zu müssen.
Nach einer Weile hob Malindi vorsichtig den Kopf. Chandra starrte ihn aus großen, entsetzten Augen an. Das fürchterliche Tosen hatte aufgehört, und das Rauschen war verklungen.
Langsam erhoben sie sich und sahen sich ungläubig um.
Ganz hinten an der Kimm schien wieder die Sonne durch die sich langsam verziehenden Wolkenbänke. Es regnete nicht mehr, nur die See war noch aufgewühlt und schaukelte das Boot hin und her. Die riesige Wolkenwand zog mit ihren Wassermassen und den fürchterlichen Blitzen weiter.
„Wischnu hat uns errettet“, sagte Chandra atemlos. „Wir haben es überlebt.“
„Ja, wir haben …“ Malindi brach ab und starrte entsetzt auf die Ausbuchtung in der Ducht, wo das Auge Subedars gewacht hatte.
Jetzt war die magische Nadel mit dem Brettchen verschwunden und die Ausbuchtung war voller Wasser.
„Oh, großer Geist!“ rief er aus. „Die magische Nadel …“
„Sie ist weg!“ schrie Chandra. „Das Meer hat sie geholt! Jetzt sind wir verloren!“
Das verlorengegangene Auge Subedars war ein herber Verlust für sie, den selbst Malindi fürchtete. Aber irgendeine ferne Stimme in ihm frohlockte auch. Sie hatten jetzt keinen Aufpasser mehr, und es hatte sich gezeigt, daß auch das magische Auge der Götter verletzlich war und nicht die Kraft hatte, den wütenden Elementen zu trotzen.
Sie standen bis zu den Knien im Wasser und blickten sich ratlos an.
Ringsum war nichts als die gigantische Wasserfläche ohne Land, eine Wüste, die lebte und atmete, wenn sie sich hob und senkte.
„Wir müssen nach Osten segeln“, sagte Malindi. Er versuchte, sich am Stand der Sonne zu orientieren, aber es fiel ihm schwer. „Weißt du die Richtung genau?“
„Ich bin mir nicht ganz sicher. Die Sonne hat mich getäuscht, als sie verschwand.“
Die setzten wieder das Segel und sahen nach, ob ihr Proviant das Unwetter heil überstanden hatte.
Die Melonen hatten ein paar Druckstellen, aber sonst schien alles in Ordnung zu sein.
Das Boot lief jetzt nur ganz langsam und behäbig. In jedem Wellental schlug wieder Spritzwasser hinein.
Chandra nahm eine halbe Kokosnußschale und reichte eine andere Malindi. Damit östen sie das Wasser aus, und es dauerte eine Ewigkeit, bis es wieder da war, wo es hingehörte.
Dabei entdeckte Chandra das Brettchen. Es hatte sich unter Wasser in der Gräting verklemmt und war dort verkeilt. Mit einem glücklichen Lächeln zeigte er es Malindi.
„Das Brettchen nutzt uns nichts“, erklärte Malindi Rama fast verächtlich. „Ohne die magische Nadel ist es nur ein wertloses Stückchen Holz und nichts weiter. Wir können es drehen, wie wir wollen, es wird uns keine Richtung anzeigen oder immer die, die wir gerade haben wollen. Wirf es über Bord.“
„Nein, das werde ich nicht tun. Wir behalten es, auch wenn es ohne den Geist wertlos geworden ist.“
Chandra Muzaffar legte das Brettchen wieder in den ausgehöhlten Teil der Ducht zurück.
Sie östen weiter, bis auch das letzte Wasser aus dem Boot war. Als sie die Gräting wieder einsetzten, sah Malindi es an einer Stelle über der Plicht fahl glänzen und bückte sich.
Das Auge des Subedar sah ihn an mit seinem silbrigen Schimmer. Es lag ganz ruhig da, ohne sich zu bewegen – so, als sei es tot und für alle Zeiten erloschen.
Malindi blickte es unauffällig an, um nicht Chandras Aufmerksamkeit zu erregen. Wie unabsichtlich stellte er den Fuß über die Nadel und mühte sich mit der Gräting ab.
Wenn das Auge Subedars da liegen bleibt, dachte er, bin ich den Spion endlich los, der uns immer belauert. Ich kann es ja einfach übersehen haben, und solange die magische Nadel nicht in ihrem Brett auf dem. Nagel sitzt, ist sie kraftlos und hat anscheinend keinerlei Einfluß. Dann kann mich auch keiner mehr beobachten.
Aber das Auge Subedars war unberechenbar und tückisch. Er rutschte auf dem glatten Teil der Gräting ab und schrie laut auf, als etwas Spitzes in seinen Fuß drang. Er hob das Bein hoch und sah einen Blutstropfen, der herablief.
Die magische Nadel hatte ihn gestochen, der Geist, der in ihr wirkte, ihn mahnend daran erinnert, nicht leichtfertig zu sein.
„Was hast du denn?“ fragte Chandra, der gerade die Pinne übernehmen wollte. „Laß mal sehen.“
Er fand natürlich die Nadel und klatschte laut in die Hände, ohne sich um die kleine Wunde Malindis zu kümmern.
„Ich wußte es!“ rief er erfreut. „Ich habe gewußt, daß das Auge über uns wacht. Es hat uns geholfen, und es wird uns wieder den richtigen Weg weisen.“
Wie ein Heiligtum nahm er die Nadel und setzte sie wieder auf die alte Stelle zurück. Kaum berührte sie den Nagel, da begann sie auch schon zu zittern und zu kreisen, bis sie wieder auf den alten Punkt wies, wo sich das Zentrum der unbekannten Macht befand.
Jetzt war es nur noch ein Kinderspiel, den Kurs auszurichten und weiter nach Osten zu segeln.
Sie segelten in die Nacht hinein. Der Himmel war voller Sterne wie aufgezogene Perlenschnüre, und auch der Mond schien hell und silbern auf das Wasser.
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