Erst als von ihm nichts mehr zu sehen war, nahm auch Malindi den Weg, den er schon einmal gegangen war. Der Zahn des Erleuchteten trug er jetzt eng am Körper, und in der rechten Hand hielt er das Messer.
So tastete er sich vor, bis er an jenen Punkt gelangte, wo der bewaffnete Wächter mit dem Krummschwert stand.
Das dunstige Licht aus einer Öllampe war rötlich und schien sich wie Nebel zu bewegen. Auch die Gestalt des totenköpfigen Priesters oder heiligen Mannes war in dieses rötliche Dämmerlicht gehüllt.
Malindi ging auf ihn zu, eng an die steinernen Wände gepreßt. Er bewegte sich so leise wie nur möglich.
Dennoch schien der Priester über einen sechsten Sinn zu verfügen. Seine Sinne waren wohl ganz besonders geschärft.
Die Gestalt mit dem Totenkopfschädel löste sich wie ein Geist aus der Nische und vertrat Malindi Rama den Weg. Im Dunstkreis des rötlichen Lichtes sah Malindi Rama, wie sich die Hand mit dem Krummschwert hob.
„Frevler!“ donnerte eine Stimme, deren krächzendes Echo sich hundertfach an den Wänden brach und immer lauter zu werden schien. „Du wagst es, dich an dem Heiligtum von Kandy zu vergreifen? Du willst den Weisheitszahn des großen Buddha stehlen und den Tempel entweihen? Nimm zur Strafe für dein Eindringen das hier!“
Die Hand mit dem fürchterlichen Krummschwert zuckte hoch. Es gab einen leisen, pfeifenden Ton.
Malindi Rama zuckte zusammen, aber alle Angst war von ihm abgefallen. Er sah den Priester an und lächelte überlegen. Sollten jetzt alle Strapazen und aller Ärger umsonst gewesen sein, alles was er auf sich genommen hatte?
Nein, er war unbesiegbar. Der heilige Zahn verlieh ihm neue, unbekannte und fürchterliche Kräfte.
Auch seine Hand zuckte hoch, blitzschnell, und brachte das dünne, scharfgeschliffene Messer zum Vorschein.
Er wich einen Schritt zur Seite und sah, wie der Schwerthieb an ihm vorbeiging, als hätte der Wächter viel zu langsam reagiert. Er wurde von seinem eigenen Schwung nach vorn gerissen.
Mit aller Kraft stieß Malindi Rama zu.
Er blickte auf den Wächter, dem das Krummschwert entglitt, der sich lautlos zusammenkrümmte und aufs Gesicht fiel. In dieser Stellung blieb er reglos liegen.
Malindi steckte sein Messer ein und schlich weiter. Er erreichte eine Tür und öffnete sie. Überrascht blieb er stehen.
Von einem wolkenlosen Himmel leuchteten die Sterne, ein halbe Mondsichel war zu sehen, die sich im heiligen Kandy-See silbern und ungebrochen spiegelte, als sei das Wasser aus flüssigem Silber.
Aus dem Dschungel waren undefinierbare Geräusche zu hören.
Malindi blickte sich um. Überall herrschte Ruhe. Es bewegte sich nicht einmal die Luft, und niemand war zu sehen.
Er ging zum Ufer des Sees hinunter, aber auf der anderen, dem Tempel abgewandten Seite. Als er einmal stehenblieb, sah er im Wasser die Mondsichel heftig zittern und entdeckte einen länglichen Schädel mit seltsam funkelnden Augen.
Er erkannte die Bestie sofort. Die heiligen Männer hatten Krokodile im See ausgesetzt, und es schien eine ganze Menge von ihnen zu geben. Wahrscheinlich sollte das abschreckend wirken.
Wenn er jetzt genauer hinsah, erkannte er überall die gelblichen Lichter im Wasser wie Reflexe, wenn das Mondlicht sie traf. Es waren kalte und gleichgültige Augen, die nach Beute Ausschau hielten.
Chandra hockte am Abhang unter einem dichten Busch. Er zitterte so stark, daß er kaum sprechen konnte.
„Hast du es?“
„Natürlich habe ich ‚es‘, wenn du damit die Reliquie meinst.“
„Fast hätten mich die Priester oder Wächter erwischt“, jammerte Chandra. „Einer hat mich mit seinem Krummschwert gestreift. Laß mich das Heiligtum sehen, Malindi, jetzt gleich.“
„Später, wir haben keine Zeit mehr. Wenn die Priester es merken, werden sie uns bis ans Ende der Welt jagen.“
„Zeig mir den Zahn, zeig ihn mir!“ schrie Chandra. „Ich will seine Kraft spüren, ihn sehen, ich will …“
Er sprang auf und zerrte wie verrückt an dem Stoffbeutel um Malindis Hüfte. Er wollte ihm das Heiligtum entreißen, doch Malindi gab ihm einen heftigen Stoß und schlug mit der Faust nach.
Chandra brüllte laut auf und alarmierte dadurch die ganze Tempelanlage. Nicht mehr lange, und die Priester würden ausschwärmen, und sie kannten sich hier besser aus als jeder andere.
Er griff nach dem Busch, um sich festzuhalten, doch er riß nur ein paar dünne Zweige ab und stürzte mit ihnen zusammen in die Tiefe. Diesmal schrie er nicht, als er in den See fiel.
Malindi stand stocksteif da und sah ihm nach. Der Körper seines Gefährten überschlug sich ein paarmal, ehe er im Wasser aufklatschte und versank.
Ein böses Grinsen lag auf seinem Gesicht. Chandra tauchte noch einmal gurgelnd auf und verschwand dann in der Tiefe.
Von allen Seiten jagten die gelblichen Lichter auf ihn zu. Sie bildeten fast einen Kreis.
Malindi Rama rannte fort, so schnell er konnte. Er stürmte mit seinem gestohlenen Schatz in den Dschungel, der ihn verschluckte.
Er lief die ganze Nacht, und er lief so lange, bis im Osten das erste schwache Dämmerlicht zu sehen war. Erst da gönnte er sich eine kleine Pause.
Wie er sich bis zum Wasserfall durchgeschlagen hatte, wußte er später nicht mehr zu sagen. Aber er verfügte über nie gekannte Kräfte, die nicht erlahmten, und er schüttelte jeden eventuellen Verfolger mühelos ab.
Er verspürte weder Hunger noch Durst, zerrte das Boot unter dem Wasserfall hervor, setzte das Segel und fuhr los.
Er hängte eine Angel über Bord und fing auf Anhieb einen großen Fisch, den er sich am Strand einer einsamen Bucht briet. Dort fand er auch eine Quelle mit sprudelndem Wasser.
Seit er im Besitz des Heiligtums war, verfolgte ihn das Glück, und alles gelang ihm. Mühelos fand er den Weg, ebenso mühelos fing er Fische oder fand Früchte – alles, was er wollte.
Immer wieder holte er die Reliquie, die solche Wunder bewirkte, hervor und betrachtete sie, und immer wieder durchströmten ihn diese unglaublichen Kräfte.
Alles ging, als gäbe es keine Probleme. Einen Sturm überstand er mit einem Lächeln, ohne daß etwas passierte, und er war schneller wieder zurück, als er geglaubt hatte.
Erst im Golf von Mannar hatte er Pech, aber das führte er auf seinen Eifer und eine gewisse Portion Leichtsinn zurück. Man durfte von den Göttern eben nicht zuviel verlangen oder sie gar herausfordern, wie er es jetzt tat.
Er hielt auf eine Stelle zu, die weiter südlich von Tuticorin lag, denn dort hatte er seine Freunde, die genauso fanatisch wie er selbst waren. Er wollte sie überraschen.
An den großen Subedar und seine Männer dachte er längst nicht mehr. Sie interessierten ihn auch nicht mehr. Er hatte das, was er immer haben wollte, und alle seine Probleme waren gelöst. Auch war ihm das Nirwana sicher und alle Glückseligkeit, die es mit sich brachte.
Vor der Küste tobte eine Brandung, eine hohe Welle brach sich nach der anderen. Auf der linken Seite gab es eine Insel mit einem kleinen Korallenriff. Hier ging die See oft haushoch, wenn sie auf den flachen Strand der unbewohnten Insel lief. Dann schäumte und toste es wie wild.
Ein kräftiger Wind packte sein Boot, und er bewegte die Pinne so, daß er die Insel an Backbord lassen konnte.
Doch da fetzte eine Bö heran, und es gab einen entsetzlich lauten Knall. Der Mast brach, und das Segel flatterte davon. Fast wäre noch das Boot gekentert.
Malindi sah sich gehetzt um und mußte zu seinem Entsetzen feststellen, daß ihn ein wilder Sog erfaßte und in die Brandung trieb. Aber sein Entsetzen verflog wieder, denn ihm konnte ja nichts passieren. Er glaubte unverwundbar zu sein.
Er wurde jedoch gleich darauf eines Besseren belehrt, als ihn eine gigantische Brandungswelle erfaßte.
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