Und so ging es weiter. Bei den meisten Damen ward sie überhaupt nicht empfangen; die eine hatte Migräne — die andere rief mit lauter Stimme im Nebenzimmer: „Sagen Sie, ich sei ausgefahren!“ — Und wo Aglaë angenommen ward und bereits sehr mutlos ihre Bitte vortrug, sie wünsche Stunden zu nehmen, um sich für die Bühne ausbilden zu lassen, da wehrte man mit solcher Hast ab und versicherte, dass jede Stunde „besetzt, — und beim besten Willen keine mehr einzuschieben sei“, — dass es die junge Frau sehr schnell empfand: Man hatte Angst von dieser Bettlerin keine Bezahlung für die Stunden zu erhalten! —
Es war Aglaë zu Mute, als müsse sie laut aufschreien vor Qual, Scham und Verzweiflung. Sie mied die Strassen, wo ihr Bekannte begegnen konnten, sie zitterte in dem Gedanken an neue Demütigungen. — Der Boden brannte ihr unter den Füssen.
Da kam ein letztes, welches ihren Entschluss, die Residenz zu verlassen, zur Reife brachte. — Ein bereits älterer Sänger, welchen sie aus früherer Zeit auch persönlich als einen der cynischsten und frivolsten Menschen kannte, schrieb ihr ein Billet. Er hatte davon gehört, dass sie Gesangstunden nehmen und zur Bühue gehen wollte. Er bot ihr seine Hilfe und Unterstützung an, ja er verlangte nicht einmal sein Stundenhonorar in klingender Münze ausgezahlt! — Der Inhalt und Ton dieses Schreibens trieben Aglaë Thränen der Empörung und der Scham in die Augen. Sie schleuderte den Brief von sich und presste voll leidenschaftlichen Schmerzes die Hände gegen die Brust. „O Hans! Hans!“ stöhnte sie auf, „ja, du hast recht gehabt — Kränkungen bis zur Schmach!“ — und sie trat zum Licht und vernichtete das Billet in der Flamme. Der rote Feuerschein zuckte über ihr bleiches Antlitz, welches den Blick voll stolzer Energie so starr geradeaus richtete, als sähe sie im Geiste eine hohe Männergestalt vor sich stehen wie damals, als sie aus ihres Vaters Hause scheiden musste. — „Ja, Hans — ich bleibe brav und gut!“ murmelte sie. Und dann ging sie energisch an das Werk, ihre Koffer zu packen. — Fort von hier! Hinaus in die fremde Welt, wo niemand sie und ihr traurig Schicksal kennt, wo sie sich flüchten und verbergen kann vor all den Geisselhieben des Spottes und der Erniedrigung, welche sie hier gefoltert haben. Auf die Hilfe ihrer Freunde durfte sie nicht zählen, sie musste vorwärts aus eigener Kraft, vorwärts zum fernen, fernen Ziel. —
An einem Konservatorium kann sie wohl am besten und unbemerktesten ihre Studien machen, und sie wird in jener fremden Stadt unbekannt sein wie all die tausend dunklen, schlichten Frauengestalten, welche arm und verlassen durch die Strassen schreiten, sich ihr täglich Brot zu verdienen. Der hochklingende Name, welcher ehedem ihr höchstes Ziel und ihre stolzeste Sehnsucht gewesen, den wirft sie von sich wie ein schweres, auffallend buntes Gewand, welches bei der Arbeit hindert und der Hand und dem Fuss nur im Wege ist. —
„Aglaë Lorrain“ steht auf dem weissen Papier, welches drei Treppen hoch an der Flurthür der Frau Rätin Barnexius angeheftet ist. — Unter dem Schutz dieser alten Dame, welche möblierte Zimmer an Schülerinnen des Konservatoriums vermietete, lebte die Vicomtesse von Saint Lorrain still und zurückgezogen, voll fiebrischen Eifers studierend von früh bis spät. Und niemand kannte sie, und niemand ahnte es, dass dieses kleine, unscheinbare Fünkchen unter der Asche ehemals ein so hellfunkelnder Stern am Himmel der Millionenanbeter gewesen.
Mich friert! Was thut’s? Im Grab ist’s kälter noch als hier! —
(Prophet.)
Das war ein rastloses Lernen und Studieren! Man hatte ihr freilich gesagt, die Stimme sei nicht sehr bedeutend, aber es könne doch wohl noch etwas Brauchbares aus ihr gebildet werden! — Das war der Strohhalm, an welchen sich Aglaë klammerte.
Frau Rätin Barnexius hatte sich anfänglich sehr um ihre junge Chambregarnistin bemüht und manchen Versuch gemacht, Aglaës Vertrauen und ihre Zuneigung zu gewinnen. Sie lebte mit den drei andern jungen Damen in sehr herzlichem, mütterlichem Verhältnis und bildete mit ihnen gewissermassen eine Familie; an Aglaës beinahe feindseliger Verschlossenheit und ihrem abweisenden Benehmen scheiterte jedoch jede Möglichkeit, sie heranzuziehen und ihr die Einsamkeit erträglicher zu machen, eine Einsamkeit, welche der lebhaften, gesprächigen Frau Rat schier entsetzlich dünkte.
Aglaë empfand dieselbe jedoch als eine Wohlthat. Sie brauchte Ruhe und Stille, um sich von den entsetzlichen Stürmen der letzten Vergangenheit zu erholen, und sie benötigte die Einsamkeit, um ihr krankes, verbittertes Herz von den Wunden zu heilen, welche ihr das Leben und die laute Welt so erbarmungslos geschlagen.
Ihr Zimmer war verhältnismässig behaglich und hübsch, wenngleich es auf die Augen einer der verwöhutesten Millionärinnen einen unbeschreiblich ärmlichen Eindruck machte. Aber mit dem Gefühl eines trotzigen Kindes, welches seinen Willen durchgesetzt, voll Genugthuung in einen sauren Apfel beisst, gewöhnte sich die Vicomtesse an all das Ungewohnte, und da sie sich ihr Leben einrichten konnte, wie sie wollte, so hatte es auch in dieser Gestalt einen gewissen Reiz.
Allerdings war es vorerst eine Unmöglichkeit für die vollständig ungeübte und unpraktische junge Frau, sich nach der Decke zu strecken und eine richtige Einteilung des Geldes zu treffen. Die kleine Summe, über welche sie noch zu verfügen hatte, teilte sie in drei gleiche Teile, um drei Jahre von derselben leben zu können. In drei Jahren musste sie ja auf alle Fälle eine Anstellung an einer Oper gefunden haben, dann bezog sie ihr gutes Gehalt und ernährte sich selber, und während dieser drei Jahre musste sie wohl oder übel alles was sie besass, zusetzen.
Aber es ist unbeschreiblich schwer, sich einzuschränken und sich ein üppiges, elegantes Leben, welches man geführt, so lange man denken kann, abzugewöhnen. Jeder kleine Luxus, der ehemals selbstverständlich gewesen, wird nun zum fressenden Kapital, und Aglaë begriff es gar nicht, wie ihr die Thaler durch die Finger rollten, wenn sie nur die notwendigsten Einkäufe für ihren Toilettentisch machte. — Bis sie einsah, dass es jetzt nicht mehr angehe, täglich das Waschwasser durch köstlich duftende Essenzen angenehm zu machen, Parfüms, Puder, Crêmes, elegante Nadeln und Haarwasser zu gebrauchen, hatten diese kleinen Liebhabereien, die ehedem selbstverständlich gewesen, schon tief in das Geld eingerissen. Auch musste sie viel Reugeld bezahlen, bis sie auf den Gedanken kam, dass sie ihre Kleider, welche begannen, sich abzutragen, auffrischen müsse. Früher wurde alles, was nur im mindesten durch den Gebrauch unansehnlich geworden, ausrangiert und durch neue Kostbarkeiten ersetzt und als die spinnwebfeine, spitzenbesetzte, meist seidene Leibwäsche zu reissen begann, da glaubte die Vicomtesse auch, es müsse sofort neue gekauft werden, und es sei doch unmöglich für eine Dame, andere Wäsche als solch allerfeinste und eleganteste zu tragen! Zum erstenmal aber geriet sie in peinlichste Verlegenheit, denn der Preis der Hemden allein betrug mehr, als sie in einem ganzen Vierteljahr ausgeben durfte.
So schwer und kümmerlich hatte sie sich das Armsein doch nicht gedacht, und so schwer hatte sie das Berechnen und Einteilen auch nicht geglaubt. Wie viel hatte sie vergessen in ihre Wochenrechnung aufzunehmen, was nun ganz entsetzliche, unerwartete Lücken in ihre Kasse riss! — Ein Gefühl der Unruhe und Angst überkam sie, und es kostete sie manch bittere Thräne, stets aufs neue auf alte Passionen und Gewohnheiten verzichten zu müssen. Es war ein zu furchtbar greller Umschwung und Wohl ein Glück für Aglaë, dass ihre beinahe kindliche Naivität sie bewahrte, ihr ganzes Elend und ihre trostlose Lage in voller Schwere zu erfassen.
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