Hans atmete schwer auf. „Ist dies mein Abschied, Aglaë?“ —
Sie nickte und lächelte. — „Vielleicht auf Wiedersehen, vielleicht auch nicht. — Ich werde Sie nie in die Verlegenheit bringen, mich verleugnen zu müssen.“
Ein schmerzliches Lächeln bebte über sein schönes, ernstes Angesicht. „Ich sehe ein, dass Sie erst bei der Erfahrung in die Schule gehen müssen, ehe Sie den Weg zurück in die Heimat finden! — Aglaë — vergessen Sie nicht, dass Sie in mir einen Freund besitzen, und wann und wo es auch sei, rufen Sie mich, falls Sie Hilfe brauchen! Verleugnen werde ich Sie nie, Aglaë, — es sei denn ...“
Er stockte und biss sich auf die Lippe, sein Antlitz ward blutrot, — hastig wollte er sich von ihr abwenden. Sie hielt seine Hand fest. Angstvoll sah sie zu ihm auf. „Vollenden Sie, Hans! — bei allein, was Ihnen heilig ist, — wann würden Sie sich meiner schämen?! Wenn ich keine Erfolge habe und ausgepfiffen werde? Wenn ich in Armut und Elend verkomme?!“ —
Er schüttelte beinahe heftig das Haupt, sein Auge flammte.
Wie die verkörperte, edle Männlichkeit stand er ihr gegenüber. „Nein, Aglaë, nicht dann! Im Gegenteil, Ihre Armut, Ihre Not würden mir lieb sein wie ein Feierkleid der Unschuld, welches die Märtyrerin schmückt! — Aber das Gegenteil davon — das gleissende Gewand der Üppigkeit, — das, Aglaë, würde ich verleugnen vor Gott und der Welt, und ein Weib, welches Triumphe und Lorbeeren mit der Ehre bezahlt — das würde für mich vergessen und verloren sein — bis in den Tod!“
Sie stand vor ihm, bleich und ernst, aber hocherhobenen Hauptes. Stumm reichte sie ihm die Hand. Ihre Lippen bebten, es lag etwas feierlich Keusches in ihrem Auge, was er zuvor nie gekannt. —
Krampfhaft presste er ihre schlanken Finger in seiner Rechten, die volle, leidenschaftliche Angst einer Liebe, welche nie erloschen, urplötzlich wieder aufflammt und um ihr Teuerstes zittert, brach durch seine Worte. „Aglaë!“ rief er beschwörend, „nur eines, — eines gelobe bei dem Andenken an deine Mutter; bleibe brav und gut! Strauchle nicht auf dem schlüpfrigen Weg! — Hungere und friere, aber lass nicht von der Tugend!“ —
Eiskalt war ihre Hand. — Fest blickte sie ihm ins Auge, und ihre Stimme klang wie ein Gelöbnis. „Ja Hans, ich will gut und brav bleiben!“ —
„Gott segne dich!“ — — und er riss sich los und stürmte davon. —
Aglaë aber strich langsam über die Stirn, es war ihr, als habe sie geträumt. Mechanisch faltete sie die Hände. Wie lange hatte sie keines Menschen Mund mehr gesegnet — wie lange hatte sie nicht mehr gebetet! —
Ja, es ist hart und schwer arm zu sein, aber arm zu werden ist noch viel tausendmal schwerer. — Ein Fuss, welcher nicht gewohnt ist auf Stein und Dorn zu wandeln, leidet Qual bei jedem Schritt und eine Hand, welche nicht arbeiten lernte, trägt gar manche Schwiele davon, bis sie es nur versteht zuzugreifen und sich zu regen. —
Wie ist es schon so ungewohnt und unbequem, ein einziges kleines Zimmer bewohnen zu müssen; welch eine fremde Beschäftigung, alles, was man braucht, zusammen zu suchen und fort zu legen! Aglaë hatte sich stets von ihrer Kammerfrau bis zur kleinsten Kleinigkeit bedienen lassen, und nun stand sie plötzlich allein und sollte sich sogar selbst frisieren! — Völlig ratlos hielt sie die prachtvollen Haare in Händen und hatte keinen Begriff, wie sie diese ungefügige Lockenfülle in die knappe Modefrisur, welche sie gewohnt war, eindrehen und aufnesteln sollte. — Stundenlang mühte und quälte sie sich ab, bis sie endlich die Arme erschöpft sinken liess und in Thränen der Ungeduld und Verzweiflung ausbrach. — Aber nur einen Augenblick, dann probierte sie die Arbeit aufs neue. Es fiel ihr ein, wie oft sie in wilder, launischer Heftigkeit Madame Laurence faul und langsam gescholten hatte, wenn sie nicht schnell genug mit der Frisur fertig war; wie sie die Ärmste oft zur Verzweiflung gebracht, wenn sie den Kopf auf die Romane neigte und dennoch jähzornig schalt, wenn die Kammerfrau jammerte: „Es ist unmöglich! Vicomtesse müssen das Köpfchen hoch und gerade halten!“ —
Nun hielt sie den Kopf hoch und gerade, aber es war ihr dennoch unmöglich, das Haar zu bändigen. Voll Heftigkeit schüttelte sie es schliesslich in den Nacken zurück. „Nun gut — dann hänge, wie du hängen willst!“ und sie band es mit einer Schleife zusammen und freute sich, dass sie künftig hin schneller fertig sein werde. — O Himmel, welch eine Last ist es doch, für sich selber sorgen zu müssen! Jeder abgerissene Knopf, jedes Band, jeder Nadelstich werden zu den schwierigsten Hindernissen! Aglaë sehnt Madame Laurence nicht zurück. Die Person hat unendlich viel Wohlthaten von ihr genossen, und dennoch versetzte auch sie der toten Löwin noch den Eselstritt beim Scheiden! — Brutal, impertinent markierend, dass aus der Millionärin eine Bettlerin geworden, so verabschiedete sich Laurence ebenso wie alle anderen Dienstboten, welche es Aglaë zuerst in nacktester, ungeschminktester Klarheit zeigten, dass nur das Gold krumme Rücken erzwingt, und dass es ein gar kläglich Ding ist, arm und verlassen zu sein! —
Seit ihren bösen Erfahrungen, welche sie in der Gesellschaft gemacht, hatte Aglaë den Glauben an die Menschheit verloren und das Benehmen ihrer Dienstboten erbitterte sie vollends und riss noch den letzten rosigen Schleier von ihren Augen, welcher die Welt in lichten Farben erscheinen liess. — „Des Daseins ganzer Jammer“ fasste sie an, ein Gefühl grausamster Ernüchterung stahl sich in ihr Herz, und am schwersten und herbsten, was sie in all ihrer Armut betraf, empfand sie den Verlust ihres Glaubens an die Menschheit. — Das Benehmen ihrer Dienstboten hatte sie immer noch mit der Ungebildetheit dieser Leute entschuldigen wollen, aber die Erfahrungen, welche sie auch in den Kreisen derer machte, welche sie für ihre Freunde gehalten, die nahmen ihr auch noch den Rest der freudigen Zuversicht, mit welcher sie ihre neue Laufbahn betreten. —
Welch absonderliches Gefühl, als Aglaë Besuche abstatten wollte und kein Diener, kein Kutscher und keine Equipage mehr da waren, welche ihrer Befehle harrten. — Der Gedanke, eine Droschke oder gar eine Pferdebahn besteigen zu müssen, war ihr entsetzlich, sie zog vor, stolz zu Fuss zu gehen. —
Wenn man in dem weichen Atlaspolster eines Wagens liegt, kennt man keine Entfernung, aber wenn man die langen Strassen Schritt für Schritt messen muss, dann merkt man erst, wie weit das Ziel ist. —
Todmüde erreichte Aglaë die Wohnung der ersten Säugerin, welche früher so manches Diner im Hause des Kommerzienrats besucht und sich stets himmlisch dabei amüsiert hatte! — Lehnberg hatte ihr einmal als Dank für ein Lied ein Brillantarmband überreicht’, welches mehr wert war, wie das ganze Vermögen, welches die Vicomtesse jetzt noch ihr eigen nannte. —
Das Kammerzöfchen musterte die ihr wohlbekannte verarmte Millionärin mit neugierig dreisten Blicken und schien es als grosse Huld zu betrachten, wenn sie sich überhaupt die Mühe nahm, sie zu melden. —
Nach recht langer Zeit erschien sie wieder und brachte die schnippische Antwort, dass ihre Herrin beim Frühstück sei, und da sie Gäste bei sich sähe, könne sie sich nicht gut stören lassen! Wenn Frau von Saint Lorrain ein Anliegen habe, möge sie sich doch schriftlich an ihre gnädige Frau wenden.“ —
Das Blut stieg Aglaë in die Wangen und raubte ihr fast die Besinnung; sie neigte kurz den Kopf und ging. —
Bei einer andern Künstlerin traf sie es nicht viel besser. Sie begegnete ihr allerdings auf der Strasse, aber Fräulein Dornée schien sie zuerst gar nicht zu erkennen und entschuldigte sich alsdann recht malitiös, sie habe die Frau Vicomtesse wirklich gar zu lange nicht gesehen, — als der Herr Kommerzienrat geadelt worden sei, habe sie ihren Besuch gemacht, um zu gratulieren, aber sie habe nie wieder etwas von den Herrschaften gehört! — Die junge Frau glaubte in den Boden sinken zu müssen vor Verlegenheit und begriff es selber nicht, wie sie den Mut gefunden, dieser Dame von ihren Zukunftsplänen zu sprechen. „Wie? Sie wollen zur Bühne? Singen Sie denn überhaupt? O — ja! ich entsinne mich jetzt — eine kleine, zarte Stimme! Mon Dieu, damit wollen Sie eine Opernpartie riskieren? Undenkbar, Verehrteste! ich rate Ihnen energisch ab! Warum werden Sie nicht Schauspielerin? Sie haben dabei doch bedeutend mehr chance! Sie glauben, ich könne etwas für Sie thun? O, Teuerste, welche Naivität! Ich bin einer Regie und Intendanz gegenüber direkt machtlos! — Bedaure sehr, Ihnen bei dieser Carriere absolut nicht behilflich sein zu können!“ —
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