„Die Damen sind nicht daheim?“ fragte Charlotte, sie sah ja auf dem Gesicht des gut geschulten Mädchens die Lüge geschrieben.
„Nein, bedaure sehr, gnädiges Fräulein,“ klang es höflich zurück, „soll ich eine Bestellung ausrichten?“ fügte sie hinzu.
„Danke!“ Charlotte wandte sich schroff um und stieg die Treppe wieder hinunter, langsam und schwerfällig.
In ihren Schläfen hämmerte es, sie hätte weinen mögen. Man wollte sie nicht empfangen, das war klar.
Aber warum, warum?
Früher waren diese Menschen stolz gewesen, wenn sie, die Nichte des berühmten Professors, zu ihnen kam, und nun —?
Sie suchte in ihrem Gedächtnis, ohne einen Anhaltspunkt zu finden, sie war sich keines Vergehens, keiner Schuld bewusst.
Ein Auto brachte sie heim, die Sorge um den Onkel gewann allmählich die Oberhand über den beleidigten Stolz. Möglicherweise war der Onkel jetzt wieder angelangt und fragte nach ihr.
Schlecht war ihr zumute. Seit dem Frühstück hatte sie nichts gegessen, und ihre Uhr wies bereits auf sechs.
Abgespannt betrat sie endlich das Haus, das sie vor ungefähr zwei Stunden verlassen, doch der Professor war noch nicht zurückgekehrt.
Das Mädchen, das ihr öffnete, machte ein merkwürdiges Gesicht und sah sie so eigentümlich an, als sie nach dem Onkel fragte, und dann bestellte sie: „Ein Herr war schon zweimal hier, um das gnädige Fräulein zu sprechen, er meinte, er wolle wiederkommen.“
„Hat er seine Karte hiergelassen?“
„Nein,“ entgegnete das Mädchen, „doch es wird wohl einer von der Polizei gewesen sein,“ entfuhr es ihr.
„Von der Polizei?“
„Na, ich weiss ja nicht, ich meinte nur so,“ wollte die kleine, dicke Person den Eindruck ihrer Worte verwischen.
„So reden Sie doch, Sie sehen doch, wie aufgeregt ich durch des Herrn Professors Fernbleiben bin. Wissen Sie etwas, ist dem Onkel etwas zugestossen?“ rief Charlotte und legte ihre Hand unwillkürlich auf die Schulter der vor ihr Stehenden.
Doch mit jähem Ruck schüttelte die ihre Hand ab, und mit einer Gebärde des Entsetzens schrie sie auf: „Rühren Sie mich nicht an, Sie sind ja verwandt mit ihm, sind seine leibhaftige Nichte. O, du gütiger Herrgott, was erlebt man alles! Uebrigens, ich kündige, und morgen ziehe ich, vierzehn Tage halte ich’s hier nicht mehr aus. Die Anna, die Köchin, geht auch und — —“
„Was wollen Sie denn von mir, was ist denn nur los, ich verstehe keine Silbe von Ihren einfältigen Reden,“ schnitt ihr Charlotte das Wort ab und begab sich auf ihr Zimmer.
Der Kopf schwirrte ihr, was hatte sich nur ereignet, dass sich plötzlich alle Menschen so abscheulich zu ihr benahmen? Es musste ein Zusammenhang bestehen zwischen dem frühen Ausgang des Onkels, der Abweisung bei Drusmanns und dem Betragen des Dienstmädchens. Ein Herr hatte nach ihr gefragt, ein Herr von der Polizei. Was mochte nur passiert sein?
Angstvolle Gedanken plagten sie, und mit leisem Stöhnen fiel sie in einen Sessel.
Wer weiss, welche Schreckensnachricht ihrer harrte, und gleich einer Vision sah sie den Onkel, den sie wie einen Vater liebte, vor sich, tot und kalt. Denn es stand wohl fest, er hatte Hand an sich gelegt, und die anderen Menschen wussten es bereits alle: Professor Bürgel war ein Selbstmörder!
Nur sie, sie wusste nichts, gar nichts, und nun wartete sie in qualvoller Spannung auf den Besuch des fremden Herrn.
Sie erhob sich und trank im Esszimmer ein Glas Rotwein, das tat ihr gut, und sie ward ruhiger. Da schrillte die Haustürglocke, und einen Augenblick später brachte ihr das Mädchen eine Karte.
Kurt Stellberg
stand darauf und mit Blei darunter in flüchtigen Schriftzügen: „wünscht Sie dringend in Angelegenheiten des Herrn Professors zu sprechen.“
Charlotte nahm sich zusammen. „Lassen Sie den Herrn in den kleinen Salon eintreten, ich komme sofort.“
Endlich würde sie Gewissheit erhalten.
Bei Charlottes Eintritt erhob sich von einem Ledersessel, auf dem er sich niedergelassen, ein mittelgrosser, sehr magerer Herr. Ein paar ruhige Augen sahen die junge Dame mit einem Blick an, in dem es wie ein tastendes Fragen lag.
„Ich bin Charlotte Synitz, die Nichte des Professors Bürgel,“ begann Charlotte und schloss die Tür hinter sich. „Sie haben mich zu sprechen gewünscht, und Ihre Worte auf der Visitenkarte sagten mir, dass Sie mir Kunde von meinem Onkel bringen. O, mein Herr,“ ihre Rede ward schneller, und bittend sah sie den Besucher an, „wer Sie auch sein mögen, wenn Sie etwas von meinem Onkel wissen, sprechen Sie, ich fiebere vor Aufregung, denn seit heute früh zehn Uhr ist er verschwunden.“
Der Herr blickte sie noch immer mit den kühlen, forschenden Augen an, es war, als wüsste er noch nicht recht, wie er sich dem hübschen, aufgeregten Mädchen gegenüber benehmen sollte.
Sie schien augenscheinlich noch keine Ahnung von dem zu haben, was sich zugetragen.
„Ist mein Onkel tot, hat er sich das Leben genommen? Martern Sie mich doch nicht. Sie sollen sehen, ich bin stark genug, das Schlimmste zu ertragen, nur diese Ungewissheit nicht.“ Ihre Stimme vibrierte.
„Gestatten Sie zunächst, dass ich wieder Platz nehme,“ kam es statt einer Antwort zurück, „und auch Sie bitte ich, gnädiges Fräulein, sich zu setzen, denn ich möchte verschiedene wichtige Fragen an Sie richten, und wir werden mindestens ein halbes Stündchen dazu brauchen.“
Er zog ihr einen Stuhl herbei, auf dem sie sich mechanisch niederliess.
Nachdem er ihrem Beispiel gefolgt, sagte er: „Wenn es Sie beruhigt, will ich voranschicken, dass der Herr Professor lebt.“
Ein Freudenschein zog über ihr Gesicht: „Dank, tausend Dank für die gute Nachricht!“
„Danken Sie mir nicht zu früh,“ wehrte er ab, und Charlotte glaubte eine leise Verlegenheit darin mitklingen zu hören.
Was konnte nun noch Schlimmes kommen, der Onkel lebte ja!
„Mein gnädiges Fräulein, ich wollte Sie vorhin nicht erschrecken, und dann sprachen Sie auch gleich so lebhaft auf mich ein, dass ich nicht dazu kam, mich Ihnen richtig vorzustellen. Mein Name, Kurt Stellberg, wird Ihnen nicht viel sagen, ich möchte nun noch hinzufügen: Ich bin Kriminalkommissar und komme zu Ihnen, um, wie ich vorhin schon äusserte, einige wichtige Fragen an Sie zu richten.“
Also doch „ein Herr von der Polizei“, wie das Dienstmädchen vorhin ganz richtig bemerkt hatte.
Wieder stieg die erstickende Angst in Charlotte auf, doch sich mühsam fassend, entgegnete sie: „Fragen Sie nur, bitte.“
„Also zunächst, meine Gnädigste: Ist Ihnen in dem Benehmen Ihres Onkels in letzter Zeit irgend etwas aufgefallen, ich meine, hat er sich in seinem Wesen irgendwie gegen früher verändert?“
Der Kommissar lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
„Ist es nötig, diese Frage zu beantworten? Es ist mir so peinlich, über die kleinen Sonderheiten zu sprechen, die der Onkel in letzter Zeit angenommen hatte,“ entgegnete Charlotte.
„Die Beantwortung dieser Frage ist unbedingt nötig,“ gab er zurück.
„Nun denn, ja, mein Herr. Der Onkel war allerdings von je ein wenig menschenscheu. Früher, zu Lebzeiten seiner Frau, soll er ein vergnügter, lebensfroher Mann gewesen sein. Seit Frau von Scholz, seine mütterliche Freundin, ermordet wurde, mit der er zuweilen von seiner toten Gattin sprechen konnte, ging er fast gar nicht mehr aus, nur manchmal des Abends. Wohin? ich weiss es nicht. Doch während des Tages hielt er sich oft stundenlang vor dem Bilde seiner toten Frau auf und sprach mit ihr wie mit einer Lebenden. Aber verzeihen Sie, wenn der Onkel lebt, warum kommt er nicht? Ist er krank, verwundet, dann will ich zu ihm,“ unterbrach sie sich.
„Der Herr Professor befindet sich im Polizeigefängnis.“
„Allgütiger!“ schrie Charlotte und sprang auf. „Wo ist der Onkel?“ Sie hatte wohl falsch gehört.
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