Sie wollte weitersprechen, doch er unterbrach sie rauh und brüsk: „Nun schweige endlich davon, Charlotte, und verekle mir das Vaterhaus nicht.“
Sie blickte ihn gross an, so schroff war er noch nie zu ihr gewesen. Ihre entsetzten Augen entwaffneten ihn, sein Aerger verflog, und lächelnd ihre Hand ergreifend, sagte er: „Was wärst du für ein liebes Geschöpf, wenn du etwas weniger tragisch sein würdest.“
Er hatte vielleicht recht, sie nahm alles viel zu schwer. Sie mühte sich gleichfalls ein Lächeln ab, und im Ohr klang es ihr: Verekle mir das Vaterhaus nicht!
Nein, nein, das wollte sie nicht, er musste wiederkommen, oft, recht oft, brachte er doch einen Strom von Frohsinn mit sich und gab ihr davon, ohne dass er es wusste. Sie hatte ihn gern, den lebenslustigen Ernst, der niemals daran dachte, in ihr etwas anderes zu sehen, als eine hübsche, ein wenig pedantische Base.
Der Professor stand vor dem Bilde seiner Frau, und seine Blicke hingen entzückt an dem zarten Köpfchen, das seine Künstlerhand vor vielen, vielen Jahren gemalt. Damals sass ihm Maria gegenüber, und ihr radebrechendes Deutsch hatte ihn immer wieder zum Lachen gereizt. Wie drollig sie ihm dann mit dem Finger drohte, er meinte es förmlich vor sich zu sehen, nur die Hand brauchte er auszustrecken und ihre niedlichen Fingerchen, die er so oft bewundert, waren in seiner Gewalt.
Seine Hand glitt suchend vorwärts — und griff ins Leere. Zerronnen war das holde Schemen, die Wirklichkeit grinste ihn an, kühl und grau.
Er war allein, ganz allein, und schon fünfundzwanzigmal hatten die Linden draussen vor der Tür so schwer und düftereich geblüht, seit Maria von ihm gegangen.
Wie die Zeit verrann.
Eine tiefe Traurigkeit nahm von ihm Besitz, hatte er doch niemand, mit dem er von ihr sprechen konnte. Charlotte, seiner Schwester Kind, ward erst drei Jahre nach ihrem Dahinscheiden geboren, Ernst vermochte sich der Mutter kaum noch zu erinnern, und er kam auch selten, und die Einzige, die unermüdlich mit ihm sein liebstes Thema erörterte, war nun tot, die hatte Maria gekannt und geliebt und ihre Schönheit bewundert. Stundenlang hatte er oft mit seiner alten Freundin von ihr geplaudert, und jetzt gab es keinen Menschen mehr, der ihn verstand.
Er seufzte tief auf, und dachte an die gute alte Dame, bei der er immer willkommen gewesen. Jener letzte Abend trat vor sein Gedächtnis, an dem er bei ihr gesessen und sie ihm aus der feinen chinesischen Kanne den goldbraunen Tee in die Tasse goss.
Ein Erbeben lief durch seinen Körper, plötzlich strafften sich seine Glieder, ein fester, konzentrierter Wille gab seinen Augen etwas hartes.
Mit schneller Bewegung, gleichsam einem anspornenden inneren Zwange gehorchend, verliess er das Zimmer, nahm auf dem Vorplatz Hut und Stock und ging zum Ausgang.
Charlotte kam ihm entgegen. Sie trug einen Strauss, den sie im Garten gepflückt hatte und auf den Mittagstisch stellen wollte.
„Du gehst aus, Onkelchen?“ fragte sie verwundert.
Sie war es nicht gewöhnt, dass der Professor um diese Zeit einen Spaziergang oder Besorgungen machte.
Er schaute sie an wie einen fremden Menschen, und kühl und flüchtig warf er hin: „Jawohl, sollte ich nicht zurückkehren, bitte, ängstige dich nicht um mich, du wirst es noch früh genug erfahren, wo ich bin.“
Er schritt eilig weiter.
„Onkel!“ schrie sie auf, „was soll das heissen, ich verstehe dich nicht?“
Er antwortete nicht, und mit einem förmlichen Sprung, als fürchte er, gewaltsam zurückgehalten zu werden, rannte er hinaus, die Haustür weit hinter sich offen lassend.
„Onkel!“ Wie ein Hilfeschrei gellte es von Charlottes Lippen, so dass die beiden Dienstmädchen aus der Küche herbeieilten.
Doch auf alle ihre besorgten Fragen schüttelte die junge Dame nur den Kopf, was sollte sie sagen, wusste sie doch selber nicht, was der Onkel mit den rätselhaften Worten gemeint hatte. Gleich einer Ahnung kommenden Unheils lag es auf ihrer Brust. Was sollte sie tun? Der Onkel würde doch keinen Selbstmord begehen?
Wunderbar wäre es ihr eigentlich nicht erschienen, denn sein Wesen ward von Tag zu Tag sonderbarer und verstörter. Bedrückt ging er umher, und sein Gesicht sah scheu und ängstlich aus. — Ob sie auf die Polizei schickte?
Doch vielleicht sah sie Gespenster und hatte harmlose Worte falsch gedeutet. Aber immerhin, dieser Morgenausgang beängstigte sie.
Sonst ging er fast nur des Abends einige Stunden fort, das war ihr nichts Neues, und sie fragte niemals, wo er sich dann aufhielt, da er selbst nie darüber redete. — —
Nachdem der Professor fast fluchtartig das Haus verlassen und Charlotte sich von ihrem ersten Schrecken erholt hatte, war sie ihm instinktiv nachgelaufen, doch so weit ihr Auge die Strasse hinabspähte, weder zur rechten noch zur linken war eine Spur von ihm zu sehen.
Die Minuten schlichen hin und reihten sich wie Perlen auf einer Schnur zu Stunden, und Stunde auf Stunde glitt vorüber, und die grosse Standuhr auf dem Gang zeigte jede einzelne an mit tiefem, vollem Kirchenglockenton.
Mittag war lange vorbei, mehrmals schon hatten die Mädchen ungeduldig nachgefragt, ob immer noch nicht angerichtet werden sollte, und immer wieder vertröstete sie Charlotte: der Herr Professor wird sicher bald kommen!
Sie glaubte ja selbst nicht mehr an diesen Trost, mit dem sie ihre eigene Angst zu beschwichtigen suchte, und endlich, da es vier Uhr schlug, machte sie sich auf den Weg, sie musste mit jemand über ihre Besorgnis reden, es erstickte sie sonst. Sie musste irgend einen Menschen um Rat fragen.
Da fiel ihr in ihrer Not die Familie des Geheimrats Drusmann ein, mit dessen Tochter sie im vorigen Jahre bei einer englischen Dame Sprachstudien getrieben. Ein paarmal hatte sie die Frau Geheimrat eingeladen, doch die Beziehungen blieben nur oberflächliche. Charlottes Wesen war zu ernst und zurückhaltend, um schnell Freunde zu erwerben.
Doch heute freute sie sich über den Gedanken, die Familie, zu der sie seit Monaten nicht mehr gegangen, aufzusuchen.
Sie machte sich, ohne einen Bissen genossen zu haben, auf, und am nächsten Droschkenhalteplatz einen Wagen anrufend, nannte sie die Adresse des Geheimrats.
Gemächlich fuhr das von einem müden alten Gaul gezogene Vehikel durch ein paar belebte Strassen, durch eine Anlage, die sich endlos dehnte, um schliesslich nach einer für Charlotte unerträglichen, endlosen Fahrt vor dem eleganten Mietshause zu halten, dessen ersten Stock Geheimrat Drusmann bewohnte.
Der Kutscher konnte auf einen grösseren Geldschein nicht herausgeben, wenigstens behauptete er das kühn. Um weiteren Aufenthalt zu vermeiden, liess ihm das junge Mädchen das ganze Geld, und mit devotem Gruss fuhr der Kutscher davon. Charlotte hatte nicht mehr darauf geachtet. Sie schellte bereits am Torweg, und in fliegender Hast ging sie an dem Pförtner vorbei.
Gott sei Dank, dass Geheimrats wenigstens zu Hause waren und sie den weiten, zeitraubenden Weg nicht umsonst gemacht hatte. Beim Vorfahren hatten ihre Augen die Fenster des ersten Stockwerkes gestreift und dabei zufällig hinter einem zurückgeschobenen Spitzenvorhang das dunkelhaarige, breit frisierte Haupt der Frau Drusmann und auch das ihrer blonden, rosigen Tochter erblickt. Frau Drusmann wusste ja für jedermann einen Rat, sie würde auch für sie einen bereit haben.
Eilig stieg sie die Treppen empor und stand bald vor der Flurtür, auf der eine Metallplatte befestigt war.
Dr. Drusmann,
Geheimrat
war darauf eingraviert. Ein Lesen des Namens fiel für Charlotte fort, sie wusste ja, dass sie recht gegangen. Ein schneller Druck auf die Schelle rief das Mädchen herbei, das Charlotte von früheren Besuchen noch gut kannte.
Doch ehe die junge Dame noch etwas sagen konnte, meinte diese: „Es ist leider niemand zu Hause, die Damen sind mit dem Herrn Geheimrat ausgegangen und kommen erst spät abends wieder.“
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