Cecilie nahm sich Zeit und frühstückte in Ruhe, aber sie war trotzdem noch früh dran, als sie durch den Empfangsraum ging. Sie hatte auf Google Maps nachgeschaut und die Fahrt zu dem Gut sollte nicht mehr als eine halbe Stunde dauern. Dort sollte sie einen Mann treffen, der finanzielle Unterstützung für das Projekt beantragt hatte, den europäischen Bison wieder auszuwildern. Es war ein sehr großes Projekt – und zum Glück eins, das wie für die Stiftung gemacht zu sein schien. Das wäre auch gut, denn Cecilie hatte strenge Anweisungen von ihrer Chefin bekommen, dass sie nach ein paar missglückten Projekten noch vor Weihnachten ein großes Projekt finden mussten, das sie fördern konnten, um alle Mittel zu verbrauchen, die ihre Abteilung sonst riskierte zu verlieren.
„Entschuldigung, Frau Lauridsen.“
„Ja?“
Sie war schon in der Tür und drehte sich überrascht um. Das Zimmer war schon bezahlt und es gab keine Minibar.
„Ich habe eine Mitteilung für Sie. Von Ihrem… Gast gestern Abend.“
Cecilie ging errötend zurück zur Rezeption und nahm mechanisch den Zettel entgegen, den ihr die Empfangsdame reichte.
„Danke“, murmelte sie und vermied Blickkontakt.
Erst draußen auf der Straße vor dem Gasthof faltete sie den Zettel auseinander.
Danke für ein wunderbares Erlebnis
Ich hoffe, deine Präsentation heute läuft gut. :-)
Herzliche Grüße
Dein Naturfotograf
Auf die Unterschrift folgte eine Telefonnummer. Cecilie konnte spüren, wir ihr Puls beim Anblick der acht Ziffern anstieg. Bedeutete das, er wollte sie wiedersehen? So musste es doch sein. Wenn das Projekt, das sie gleich begutachten sollte, nur halb so vielversprechend war wie die Bewerbung, dann gab es eine ganze Menge, was sie sich näher anschauen musste. Genug, um zu rechtfertigen, mehrere Tage in Astrup zu bleiben. Sie wollte sich gerade umdrehen, um das Zimmer noch für ein oder zwei weitere Nächte zu buchen, als ihr auffiel, wie das wohl für die Empfangsdame aussehen würde. Eigentlich sollte ihr das wohl egal sein, aber sie brachte es trotzdem nicht fertig. Die kleine Stadt wirkte ohnehin nicht besonders überrannt, also konnte das sicher warten. Aber dann schüttelte sie über sich selbst den Kopf. Sollte sie sich darin hineinsteigern, was irgendeine beliebige Empfangsdame dachte? Beinahe trotzig marschierte sie zurück und verlängerte ihre Buchung um eine Nacht. Aus einem plötzlichen Einfall heraus nahm sie die Bewerbung hervor und schaute die Telefonnummer des Bewerbers nach. Sie wusste, dass der bloße Gedanke völlig verrückt war, aber sie musste trotzdem sichergehen. Zum Glück war es nicht dieselbe Nummer wie auf dem Zettel, den sie gerade von der Empfangsdame bekommen hatte. Sie konnte in aller Ruhe zu ihrem Meeting fahren und später konnte sie eine SMS an den „Naturfotografen“ schicken und fragen, ob er Pläne für den Abend hatte. Aber zuerst musste sie zusehen, sich eine Packung Kondome zu kaufen.
Die Allee zum Gut Hvidfeldt glich den meisten anderen alten Alleen. Die windgeplagten Ahornbäume in zwei symmetrischen Reihen streckten ihre kahlen Trollfinger in alle Richtungen aus und hatten es dringend nötig, beschnitten zu werden. Am Ende, etwas höher gelegen, lag das eigentliche Gut ruhig und friedlich da. Ganz bestimmt denkmalgeschützt, das sah sie schon von Weitem. Während der Fahrt die Allee entlang tauchte hinter dem Wallgraben mehr und mehr von dem weißen Hauptgebäude auf. Cecilie spürte ihr Herz in der Brust anschwellen. Sie liebte die dänischen Gutshöfe einfach, und nicht minder die Natur, die sie umgaben. Sie hatte ihr Glück beinahe nicht fassen können, als sie vor drei Jahren den Job als Sachbearbeiterin in einer von Dänemarks größten Wohltätigkeitsstiftungen bekommen hatte. Die Stiftung unterstützte alle mögliche unterschiedlichen Projekte und Cecilies Abteilung arbeitete mit Renaturierung und anderen Umweltprojekten. Sechs Mal im Jahr gab es planmäßige Vorstandssitzungen, wo die verschiedenen Abteilungen Projekte vorstellten, die ihrer Beurteilung nach Förderung verdienten. Die nächste Vorstandssitzung war genau vor den Weihnachtsfeiertagen, am 22. Dezember, und es würde keinen guten Eindruck machen, wenn sie nicht ein einziges Umweltprojekt präsentieren konnten. Im Moment hatten sie niemand anderen im Auge als das Gut Hvidfeldt, also hoffte Cecilie inständig, dass die Kriterien, die sie hier kontrollieren sollte, erfüllt waren. Bisher sah es vielversprechend aus.
Als sie am Gut angekommen war, überlegte sie einen Augenblick, ob sie den ganzen Weg bis in den Hof hineinfahren oder draußen parken sollte. Sie wählte letzteres. Danach ging sie über die malerische Brücke über den Wallgraben und hinein in den Innenhof, eine Schotterfläche zwischen drei großen Gebäuden. Dort blieb sie stehen und sah sich um. Das Gut war wie ein normaler Hof mit zwei Flügeln geformt, allerdings waren alle Gebäude viel höher und hatten viel größere Fenster und mehr Verzierungen als ein gewöhnlicher Hof aus derselben Epoche. Das Hauptgebäude in der Mitte war das größte der drei Häuser. Aus den Unterlagen wusste sie, dass das Gut Hvidfeldt aus dem Jahr 1781 stammte und der jetzige Gutsbesitzer es vor vier Jahren von seinem Vater geerbt hatte. Sie wusste auch, dass es sehr an finanziellen Mitteln haperte, was für dänische Gutshöfe nicht ungewöhnlich war. Eine Bewegung in einem der Fenster eines Seitenflügels fing ihre Aufmerksamkeit und als sie hochschaute, entdeckte sie eine rothaarige Frau, die dastand und sie beobachtete, halb hinter der Gardine verborgen. Cecilie winkte vorsichtig, aber die Frau war schon weg.
„Hallo!“, rief ein Mann, der genau in dem Augenblick aus einem der Ställe kam.
„Sie kommen sicher von der Ægidius-Stiftung?”
„Genau. Hallo, Cecilie Pihl Lauridsen“, sagte Cecilie und streckte dem eifrigen Mann lächelnd ihre Hand entgegen.
„Was für ein fantastisches Gut Sie haben!“
„Oh“, sagte der Mann und deutete ihr den Weg zu einer der Ecken, wo man durch die Lücke zwischen zwei Gebäuden hindurch in den Park hinter dem Gut gehen konnte.
„Es ist nicht meins. Ich arbeite nur hier. Als Förster. Ich heiße Mads Larsen.“
Er streckte die Hand aus, ohne seine Schritte zu verlangsamen, also wurde es ein etwas umständlicher Handschlag im Gehen.
„Ihr Plan, den europäischen Bison hier auszuwildern, klingt sehr spannend“, sagte Cecilie und genoss die grünbraune Winterlandschaft des Gartens hinter dem Gut. Im Sommer musste es eine Augenweide aus bunten Blumen sein.
„Die Bewerbung ist ja sehr detailliert und ausgearbeitet, also bin ich gespannt, das Gebiet zu sehen, das Sie sich dafür vorstellen.“
„Wir nehmen den Traktor“, sagte Mads und zeigte auf einen Traktor mit Anhänger, auf dem gestapelte Heuballen thronten. „Ich muss sowieso raus und die Rehe füttern.“
Cecilie zog im kalten Wind den Mantel enger um sich.
„Der Gutsbesitzer ist bestimmt ganz enthusiastisch über Ihre Pläne?“
„Tja, er ist auf jeden Fall…“
Mads verlangsamte seine Schritte und zögerte.
„Der Gutsbesitzer ist…“
„ Larsen!“, ertöne eine laute Männerstimme hinter ihnen. Sogar in dem starken Wind erreichten sie die Worte ohne Probleme.
„Können Sie kurz reinkommen? Und nehmen Sie Ihren Gast mit.“
„… der Gutsbesitzer ist etwas eigen“, beendete Mads seinen Satz und wandte sich mit schweren Schritten um.
„Aber jetzt haben Sie die Chance, ihn zu treffen.“
Irgendetwas in der Stimme hatte Cecilie bereits darauf vorbereitet, was sie nun sah. Trotzdem war es ein Schock, als sie Mads durch die Stalltür folgte und Angesicht vor Angesicht vor dem Mann stand, mit dem sie eine so wunderbare Nacht verbracht hatte und dessen Abschiedszettel sorgfältig zusammengefaltet in ihrer Tasche lag.
Читать дальше