„Gut“, sagte Freeman und wartete ab. Er wollte es dem Alten nicht allzu leicht machen.
„Hm —“ Miller betrachtete angelegentlich seine Fingernägel. „Eleanor hat in letzter Zeit auch nicht geklagt.“ Miller faßte das sicher als großes Kompliment Freeman gegenüber auf.
„Aha“, sagte Freeman, „das freut mich aber. Vielleicht werde ich noch was?“
„Bestimmt, mein Junge“, sagte Miller mit aller falschen Güte, zu der er fähig war. Er hatte nicht den ironischen Unterton Freemans bemerkt. „Bestimmt sogar“, wiederholte Miller noch einmal nachdrücklich. „Und was die andere Angelegenheit betrifft …“
„Welche andere Angelegenheit?“ wollte Freeman wissen.
„Nun, lassen Sie mich erzählen.“ Miller lehnte sich zurück und spielte mit seinem Glas. „Nächsten Freitag“, fuhr er fort, „soll doch in Florida der Bankenkongreß beginnen. Bei diesem Kongreß hat man mich unglückseligerweise als einen der Hauptredner vorgesehen. Nun ja, das ist kein Wunder. Die alte Miller-Bank, die heutige Freeman-Miller-Bank, war einmal eines der bekanntesten Bankinstitute des Landes. Das ist leider nicht mehr so …“
„ … Obwohl der Umsatz um zweihundert Prozent gestiegen ist, seitdem ich sie übernommen habe“, warf Freeman ein.
„Davon wollen wir jetzt nicht sprechen“, sagte Miller nachsichtig, „ich meine nur, daß der Ruf der Miller-Bank sehr gut war und daß ich gewissermaßen einer der bekanntesten Bankiers dieses Landes bin.“
„Na, dann ist es doch großartig, daß Sie eine hübsche Rede halten werden“, meinte Freeman.
„Gewiß. Das Traurige ist nur, daß ich keine Zeit habe.“
„Dann sagen Sie einfach ab.“
„Das geht nicht mehr. Der Kongreß beginnt nächsten Freitag. Ich kann es mir nicht leisten, abzusagen. Man würde keinen Ersatzmann finden.“
„Fällt Ihnen nicht reichlich spät ein, daß Sie keine Zeit haben werden?“ meinte Freeman.
„Ich habe keine Zeit, aber ich habe einen Ersatzmann“, sagte Miller.
Freeman starrte ihn verständnislos an.
„Das begreife ich nicht!“
„Es ist doch ganz einfach“, lachte Miller. „Sie, Freeman, werden für mich fahren und meinen Vortrag halten.“
Freeman starrte ihn entgeistert an. Er sollte fortfahren, vor den Bankleuten des ganzen Landes einen großen Vortrag halten und mußte jede Sekunde zittern, daß seine Frau oder jemand vom Personal den in seinem Keller eingesperrten Raubmörder Archie Ballister entdeckte. Das Ganze kam ihm so unwahrscheinlich vor, daß er in Versuchung geriet, laut loszulachen.
„Was ist los?“ fragte Miller. „Wollen Sie etwa nicht?“
„Ich kann doch unmöglich als Ersatzmann für Sie einspringen“, sagte Freeman.
„Natürlich können Sie. Sie sollen ja nichts weiter tun, als meine Rede abzulesen. Natürlich werden Sie den Leuten nicht erzählen, Sie hätten auch die Rede selbst verfaßt — Sie werden am Beginn Ihres Vortrages sagen, ich wäre erkrankt, und Sie hätten den Auftrag, meinen Vortrag vorzulesen.“
„Wenn das alles ist, können Sie doch einen Rundfunksprecher hinschicken“, meinte Freeman.
„Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?“ fragte Miller. „Uebrigens ist alles schon vorbereitet. Ich habe zwei Flugkarten besorgt. Eleanor wird mit Ihnen reisen. Sie werden vier Tage fortbleiben. In der Zwischenzeit wird Sprogget die Bank führen.“ Sprogget, das war der zweite Direktor, ein farbloser, kleiner Mann ohne Rückgrat.
Freeman sah Miller gerade an.
„Ausgeschlossen“, sagte er, „ich kann jetzt nicht fahren.“
„Aber natürlich werden Sie fahren“, sagte Miller, „mein Schwiegersohn wird mich doch nicht in einer solchen Lage im Stich lassen.“ Er erhob sich und sah auf die Uhr. „Höchste Zeit für mich“, sagte er, „und viel Erfolg in Florida. Ich schicke Ihnen heute nachmittag jemanden herüber, der Ihnen alle nötigen Unterlagen und das Manuskript der Rede bringt. Grüßen Sie mir Eleanor.“
Er schritt aufgerichtet durch das Wohnzimmer. Freeman brachte ihn zur Haustür und beobachtete voll Ingrimm, wie der draußen wartende Fahrer den Schlag von Millers Cadillac aufriß. Wütend ging er ins Wohnzimmer zurück. Sein Blick fiel auf Millers Handschuhe, die dieser vergessen hatte. Er packte sie und schleuderte sie auf den Boden. Dann goß er sich ein großes Glas voll Whisky und leerte es auf einen Zug. Danach war ihm bedeutend wohler.
Das Manuskript von Millers Rede, welches am Nachmittag gebracht wurde, schleuderte Freeman ebenso zu Boden wie die Handschuhe. Als jedoch Eleanor erschien und ihn vorwurfsvoll ansah, hob er es wieder auf. Er blätterte es mißmutig durch. Kein Zweifel, es war eine ausgezeichnete Rede, und normalerweise hätte es ihm Spaß gemacht, sie vor dem Bankkongreß zu halten. Aber nicht, solange ein Raubmörder in seinem Keller Schutz suchte.
Doch wie sollte er das Eleanor klarmachen?
„Ich verstehe gar nicht, was du gegen eine Reise nach Florida hast“, sagte sie. „Besonders jetzt im Winter, wo hier ein miserables Wetter herrscht. In der Bank kann es auch keine Schwierigkeiten geben. Sprogget erledigt den Routinekram, und schwierige Sachen macht sowieso mein Vater.“
„Ich will nicht“, erwiderte er lahm, „und ich dachte, daß meine Frau das respektieren würde.“
„Wenn du wenigstens einen Grund hättest“, sagte sie vorwurfsvoll, „aber einfach, weil du nicht willst, zwingst du mich, bei schlechtem Wetter in Georgia zu bleiben, statt mich in der Sonne Floridas erholen zu können.“ Und sie lief ans Telefon, um den alten Miller anzurufen.
Normalerweise hätte Freeman irgendeinen wichtigen Termin in der Bank vorschieben können. Das verbot sich jedoch von selbst, da der alte Miller über alles in der Bank informiert war. Und etwas anderes wollte ihm nicht einfallen, so sehr er sich auch bemühte.
Es gab nur eine Möglichkeit — Archie Ballister mußte verschwinden. Aber wenn er sich weigerte?
Dann mußte er es mit Gewalt versuchen. Ueberhaupt, warum nicht gleich mit Gewalt. War es nicht das beste Mittel, den unbequemen Mitwisser von früher loszuwerden? Solange Archie lebte, bestand die Gefahr, daß er bei der Polizei etwas über Randolph Freemans Vergangenheit ausplauderte. Nie würde Freeman sich richtig freifühlen können.
Und Freeman stand am Fenster und überlegte, wo man wohl einen Leichnam so verstecken konnte, daß die Polizei ihn nicht fand.
Währenddessen lief Archie im Keller ruhelos auf und ab. Es war empfindlich kalt hier unten. Erst hatte er Freiübungen gemacht, dann den Whisky ausgetrunken. Jetzt rannte er hin und her wie ein gefangener Löwe im Käfig. Er rauchte so viel, daß er schon Angst hatte, die Feuerwehr würde kommen.
Von dem schmalen Kellerfenster aus konnte er, wenn er sich auf den Tisch stellte, den Kiesplatz vor dem Haus sehen. Freeman hatte wenigstens den Chevrolet beseitigt. Das Fenster hatte den Vorteil, daß er jeden Besucher sehen konnte, der zum Haus kam, denn das Gebäude lag am Ende einer Sackstraße. Er sah den alten Miller kommen und wieder abfahren, dann rührte sich nichts mehr im Park, der grau und trüb im Nebel dalag.
Archie Ballister zog den Revolver aus der Tasche und entsicherte ihn. Nachdenklich spielte er mit dem Abzugshebel. Er hatte noch fünf Schuß — vor wenigen Tagen waren es noch sechs gewesen. Dann war die Sache in Dover passiert, und er hatte abgedrückt. Raubmord sagte man dazu.
Immerhin blieben ihm noch fünf Schuß. Das war eine ganze Menge für einen verzweifelten und zu allem entschlossenen Mann. Vielleicht konnte er sich damit das Geld besorgen, das er brauchte, um weiterzukommen. Denn er hatte geblufft, als er Freeman das Bündel Dollarnoten vor die Füße geworfen hatte. Es war sein letztes Geld gewesen, und das waren keine hundert Dollar. Der Raubmord in Dover hatte sich nicht gelohnt.
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