Freeman bückte sich ein wenig und öffnete die Tür des Kühlschrankes. Mit einer Flasche Sodawasser in der Hand richtete er sich wieder auf. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von der Glastür entfernt. Plötzlich zuckte Freeman zusammen, ein eisiger Schreck durchfuhr ihn. Er starrte in ein fremdes Gesicht, in das Gesicht eines Mannes, der draußen vor der Glastür stand und ihn aus stechenden, dunklen Augen beobachtete.
Langsam löste sich Freeman aus seiner Erstarrung. Vorsichtig ging er rückwärts. Wenn es ihm gelang, mit einem Satz die angelehnte Tür zu erreichen und sich im Flur in Sicherheit zu bringen, war er gerettet. Im Rauchzimmer bewahrte er seinen Revolver auf.
Der Mann draußen hob den Arm und deutete gebieterisch auf den Hebel, mit dem die Glastür von innen verschlossen war. Freeman blickte verstohlen nach links. Er war vielleicht noch zwei Meter vom Ausgang entfernt.
In diesem Augenblick schien der Mann draußen seine Absicht erkannt zu haben. Blitzschnell hob er den Arm, Freeman sah etwas Metallisches blinken, dann zersplitterte die Scheibe. Freeman wagte nicht, sich zu rühren. Der Gegenstand, mit dem der Mann die Scheibe zerschlagen hatte, war ein Revolver. Und die Mündung dieses Revolvers zeigte genau auf ihn.
Freeman konnte jetzt das Gesicht des Mannes genauer erkennen. Es machte einen verstörten, gehetzten Eindruck. Die Haare hingen ihm wirr in die Stirn. Besonders auffällig war der Schnurrbart über seinen schmalen, zusammengepreßten Lippen. Er trug einen dunklen Anzug, der ebenfalls reichlich mitgenommen aussah.
Jetzt langte er mit der Revolverhand durch das Loch in der Scheibe und hebelte die Tür selbst empor. Gleich darauf trat er in die Küche. Der Revolver lag immer noch schußbereit in seiner Hand.
Freeman starrte ihm verstört ins Gesicht. Mein Gott, dieses Gesicht kannte er doch irgendwoher. Er hatte es vor vielen Jahren das letzte Mal gesehen, doch hatte sich dieser Anblick unauslöschlich in sein Gedächtnis eingeprägt. Nie würde er dieses Gesicht vergessen können. Viele Jahre hatte er gehofft, es nie wiedersehen zu müssen. Jetzt war diese Hoffnung tot.
„Archie“, stammelte er, „Archie Ballister! Wie kommst du hierher?“
Der unheimliche Besucher blickte ihn an, ohne das Gesicht zu verziehen.
„Ich sehe, du erinnerst dich noch an mich“, sagte er schließlich. Sein Mund bewegte sich kaum beim Sprechen. Seine Stimme klang tief und heiser.
„Natürlich, Archie, wie sollte ich dich je vergessen!“ Freeman schluckte. Was, zum Teufel, wollte Archie von ihm? Das letzte, was er von Archie gehört hatte, war, daß er nach Mexiko gegangen war. Das lag aber schon lange zurück, fast zwanzig Jahre. Die Dinge, wegen derer er damals das Land verlassen mußte, waren sicher längst verjährt. War er deswegen zurückgekommen?
„Warum hast du nicht vorher angerufen?“ tastete sich Freeman vor. „Ich hätte dich dann im Wagen abholen können, und wir hätten uns irgendwo in der Stadt treffen können!“ Alles Lüge, dachte er, wenn Archie sich vorher angemeldet hätte, hätte er zu seinem Revolver gegriffen und ihm gesagt, er solle sich zum Teufel scheren.
„Du weißt, daß ich Ueberraschungen liebe“, sagte Archie, der immer noch den Revolver auf Freeman gerichtet hielt. Er wies mit dem Kopf zur Tür. „Wer spricht da draußen?“
„Meine Frau“, sagte Freeman rasch.
„Sind noch mehr Leute im Haus?“ wollte Archie wissen.
„Die Köchin und der Diener“, sagte Freeman, „aber was soll das Ganze. Bist du vielleicht …“
„Red nicht so viel“, unterbrach ihn Archie, „wo können wir uns ungestört unterhalten?“
„Wir könnten zusammen in die Stadt fahren“, beeilte sich Freeman zu versichern, „wir können irgendwo essen — ich lade dich gerne ein.“
„Nein, ich werde hierbleiben“, erklärte Archie, „ich werde mich für einige Zeit bei dir niederlassen, und du wirst dafür sorgen, daß kein Mensch davon erfährt. Still!“
Im Flur hörte man Schritte. Marthe kam aus dem Wohnzimmer.
„Schaff sie weg“, zischte Archie.
Freeman ging zur Tür und öffnete sie. Marthe blieb erschrocken stehen.
„Oh je, Mr. Freeman, ich habe nicht gewußt, daß Sie da sind“, sagte sie.
„Gehen Sie zu meiner Frau, und fragen Sie sie, ob noch Sodawasser im Haus ist“, befahl ihr Freeman.
„Es steht welches im Kühlschrank, Mr. Freeman“, sagte sie eilig, „ich habe es erst vorhin kalt gestellt.“
„Es ist keines da“, sagte Freeman schneidend, „los, gehen Sie schon. Worauf warten Sie noch?“
Als die Köchin kopfschüttelnd verschwunden war, wandte sich Freeman um.
„Du mußt verschwinden, Archie“, sagte er, „hier im Haus kannst du nicht bleiben. Kein Mensch darf dich hier sehen.“
„Ich werde hierbleiben“, sagte Archie und hob den Revolver etwas in die Höhe, „und du wirst dafür sorgen, daß niemand etwas davon merkt. Ich habe mir das Haus vorhin gut angesehen. Unten ist ein großer Keller, da findet sich bestimmt ein sicherer Platz für mich.“
„Archie!“ Freeman stand der Schweiß auf der Stirn. „Ich weiß nicht, warum die Polizei hinter dir her ist. Es geht mich auch nichts an. Aber wenn sie dich bei mir finden, bin ich auch erledigt. Du kannst hier einfach nicht bleiben. Ich werde dir Geld geben, soviel du brauchst. Die mexikanische Grenze ist nicht weit …“
„Ich brauche kein Geld“, sagte Archie und holte ein Bündel Dollarnoten aus der Tasche, „ich kann dir sogar bezahlen, was du für mich ausgibst.“ Er warf das Bündel Freeman vor die Füße. „Was ich brauche, ist ein sicherer Platz, und den finde ich nur hier. Denn du darfst es nicht riskieren, daß die Polizei mich hier findet. Also hast du selbst das größte Interesse an meiner Sicherheit.“
„Ich bin nicht an den Verbrechen beteiligt, wegen derer du jetzt gesucht wirst“, erklärte Freeman verzweifelt.
„Aber du warst es einmal“, sagte Archie mit plötzlich schneidender Stimme, „wenn ich gewisse Einzelheiten aus deiner Vergangenheit bei der Polizei erzähle, ist es aus mit all dem, was du hier so großartig besitzt.“
„Also eine kleine Erpressung“, sagte Freeman und beherrschte sich nur mühsam.
„Genau“, sagte Archie, „und jetzt zeig mir, wo es in den Keller geht.“
Zähneknirschend stand Freeman da. Er wußte, daß es keinen Sinn hatte, sich Archie zu widersetzen. Sie waren vor vielen Jahren einmal Partner gewesen, und mit Schrecken erkannte Freeman jetzt, daß er diese Partnerschaft nicht einseitig lösen konnte, wie er dies viele Jahre geglaubt hatte.
Die Kellertreppe führte von der Küche aus nach unten, was sich jetzt als praktisch erwies. Sie brauchten nicht durch den Hausflur, wo sie leicht von John oder Marthe hätten gesehen werden können.
Unten führte ein langer Gang quer durch den ganzen Keller, zu dessen beiden Seiten die einzelnen Räume lagen. Archie ging langsam herum und ließ sich von Freeman erklären, was in den einzelnen Räumen war. Am Ende des Ganges lag die ehemalige Werkstatt des alten Miller. Freeman selbst hatte sie nie benutzt, doch waren die Werkzeuge alle noch vorhanden. Dieser Raum war neben dem Weinkeller als einziger abschließbar. Archie entschied sich dafür, hier einzuziehen.
„Ich brauche Matratzen, Decken und Waschzeug“, sagte er, „immerhin ist hier ein Wasseranschluß vorhanden. Du wirst mir alles noch heute herunterschaffen. Außerdem brauche ich eine Stange Zigaretten, — Filterzigaretten. Dann wäre es noch anständig, wenn du mir eine Flasche Whisky besorgst und mir jeden Morgen die neuesten Zeitungen bringst. Das wäre momentan alles.“
„Ich bringe dir alles, sobald ich es unauffällig machen kann“, versprach Freeman.
„Und noch etwas“, sagte Archie, „draußen auf dem Kiesplatz steht mein Wagen. Vielleicht stellst du ihn in die Garage — die Nummer ist bei der Polizei bekannt, und es könnte riskant sein, wenn ihn jemand sieht.“
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