Das Gedicht und seine politische Brisanz werden zum Anlass und Gegenstand mehrerer Verhöre der Hauptfiguren durch einen Hauptmann der Securitate; das Freundschaftsgedicht und sein Sujet sind aber auch insofern Leitmotiv des Romans, als die Berechtigung der mütterlichen Warnung in unterschiedlichen, allesamt im Wortsinn fatalen Figuren- und Beziehungskonstellationen von Freundschaft durchgespielt werden: Vier aus deutschstämmigen Dörfern und Kleinstädten stammende Student*innen, die Ich-Erzählerin und ihre Freunde Edgar, Georg und Kurt, finden nach dem Selbstmord der Zimmergenossin Lola deren Tagebuch, versteckt im Koffer der Ich-Erzählerin. Durch die Lektüre verstehen sie im Nachhinein den ärmlichen familiären Hintergrund der jungen Frau als Motiv für ihr Aufstiegsstreben und ihre wechselnden Männerbekanntschaften, darunter auch ein privilegiertes Parteimitglied, ein Mann, dessen »weißes Hemd« 19als eines der Müller-typischen Ding-Symbol-Indizien funktioniert (s. u.) und schon auf die Schuld des Mannes – er schwängert Lola und zeigt sie beim Lehrstuhl an, als sie ihm zu nahezukommen droht – vorausweist ebenso wie darauf, dass er sich seiner Verantwortung und jeder Verfolgung entziehen kann. 20Die nachträgliche Solidarität der Protagonistin mit Lola geht mit politischer Verunsicherung einher – zuvor hatte die Erzählerin noch dem posthumen Parteiausschluss der Selbstmörderin zugestimmt – und macht die zuvor Unauffällige der Securitate verdächtig, ebenso wie die drei Freunde. Die weiteren Lebenswege der vier Protagonisten als Lehrer auf dem Land, Ingenieur in einer städtischen Fabrik und Übersetzerin sowie ihre jeweiligen Bedrängnisse, Beschimpfungen und Repressionen, die in Entlassung, Ausreiseanträge, rätselhafte Tode im Ausland und zweifelhafte Selbsttötung vor der Ausreise münden, variieren die prekäre Gefährdung von Freundschaft unter den Bedingungen der Diktatur. Verdichtet wird diese Erfahrung in ihrer emotionalen Widersprüchlichkeit in einer ebenfalls fatalen Frauenfreundschaftskonstellation, als die Ich-Erzählerin, inzwischen Übersetzerin in einer Fabrik, ihre dort gewonnene Freundin Tereza, Tochter eines angesehenen Parteimitglieds, verliert – durch deren Krebstod und deren Verrat. Beides wird durch den Geheimdienst so miteinander verquickt – der Kranken wird Zugang zu einer besseren Therapie versprochen, wenn sie den Wohnungsschlüssel der inzwischen in den Westen ausgereisten Freundin bei einem dortigen Besuch kopiert –, dass der Tod, der die Vergeblichkeit des Freundschaftsopfers besiegelt, die Verräterin selbst zum mehrfachen Opfer macht: zum Opfer der Krankheit, der falschen Hoffnungen, der Versprechungen und Drohungen der Securitate und der Enttäuschung der verratenen Freundin. Die Erzählstimme vollzieht diese Überblendung nach, indem sie den tödlichen Tumor als ›Nuss‹, in und mit der der Verrat wächst, konkretisiert: »Die Nuß wuchs gegen uns. Gegen alle Liebe. Sie war bereit zum Verrat, gefühllos für die Schuld. Sie fraß unsere Freundschaft, bevor Tereza an ihr starb.« 21
Die Trauer um die Tote wiederum wird kontaminiert von der Enttäuschung der Erzählerin, verraten worden zu sein; die Möglichkeit sich zu distanzieren oder (mit Verachtung) abzuwenden, wird durch die endgültige Abwendung der Freundin im Tod verunmöglicht, das moralische Urteil über sie durch das Mitgefühl mit ihrem Leiden und die Trauer über ihren Verlust durchsetzt. Insofern wirkt der Verrat zerstörerischer als der Tod, weil er nicht nur Verlust bedeutet, sondern nachträglich auch die Integrität der Freundin, die Freundschaft als Wert und die Urteilsfähigkeit der Verratenen infrage stellt oder auslöscht, und so sogar die Pietät der Trauer vergiftet.
Auch andere Konstellationen von Verrat durch Geliebte, Ehepartner und Freunde insistieren auf der Ambivalenz, einerseits als Verunsicherung, wem zu trauen ist und wie die Wirklichkeit zu verstehen ist. Diese hat, unter den Vorzeichen der Diktatur, längst die Unschuld des reinen und kontingenten So-Seins verloren und ist, als Zivilisation wie als Natur, nur noch als Zeichensystem zu deuten; wer in ihr überleben will, muss in ständiger Wachsamkeit Pappeln (in »Der Fuchs …«) ebenso ›lesen‹ wie Blicke und Spuren fremden Eindringens in die eigene Wohnung. Insofern kennzeichnet Ambivalenz nicht nur die Außenwelt respektive deren Wahrnehmung, sondern andererseits auch die Individuen und deren Fähigkeit zu vertrauen. Freundschaft wie Vertrauen erscheinen angesichts der Erfahrungen eher eine Gunst auf Zeit als eine verlässliche Zukunftsperspektive. Das betrifft nicht nur die Freunde, Liebhaber oder Ehepartner, sondern zentral die Erzählerinnen selbst, deren Fähigkeit zu vertrauen grundsätzlich unterminiert wird. Wie gefeit sie ihrerseits davor sind, Verrat zu begehen, ist eine in der Narration stetig mitlaufende Frage, und der vermutlich aus einem abgewandelten Sprichwort entstandene Romantitel »Der Fuchs war damals schon der Jäger« zitiert nicht nur die Doppelgesichtigkeit von (vermeintlicher) Beute und Jäger, sondern verweist auch auf Tradition oder Naturgesetzlichkeit dieses Umstands und die Dauer der Täuschung. Alle Ceauşescu-Romane thematisieren die Täuschung und die Gefahr des Verrats so latent implizit wie strukturell omnipräsent: In »Der Fuchs …« wird ein Fuchsfell in der Wohnung der Erzählerin in ihrer Abwesenheit immer weiter zerschnitten, um sie einzuschüchtern; in »Herztier« illustrieren die Lebenswege der vier Hauptfiguren, die durch die gemeinsame Lektüre des Tagebuchs einer Selbstmörderin in ihrer Haltung gegenüber dem Staat verbunden sind, die zerstörerische Macht der Securitate für die Biografie der Einzelnen und für den Bestand der Freundschaft. Selbst das vermeintlich gute Ende für die Protagonistin und den Freund Edgar steht wie ihr weiteres Leben und das Zeugnis, 22das sie (auch mit dem Roman) ablegen, unter dem Zeichen der ›Überlebensschuld‹: »Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm (…), wenn wir reden, werden wir lächerlich.« 23In »Heute wär ich mir lieber nicht begegnet« schließlich strukturiert die Straßenbahnfahrt der Hauptfigur zu ihren Verhören durch die Securitate den Roman und bringt die Erzählerin, unterbrochen von Erinnerungen und Reflexionen, der Gefahr des Verhörs und der Gefahr, im Verhör (sich) selbst zu verraten, beständig näher. Das scheint deshalb wichtig zu betonen, um den epischen Zug der Texte, ihre auf ›Was-Spannung‹ angelegte Handlung, die Welthaltigkeit transportiert und auch rein stofflich interessierte Leser*innen anspricht, hervorzuheben, obgleich in Rezeption und Forschung häufig das Bildmächtige, Poetische, oft Surreale der Metaphorik und die nahezu traumlogikhaften Handlungsabläufe betont werden.
Die in der konkreten Situation der Diktatur geschulte Wahrnehmung ist ebenso Überlebensinstinkt wie poetische Gabe; die Mehrdeutigkeit der Bilder und der Sprache sind Gefahr und Geschenk – das führen die Romane auf engstem Raum vor, ohne es weitschweifig explizieren zu müssen.
Zur Dichte des Verfahrens – wie zum Raumgefühl einer begrenzten, beengten und überwachten Welt – tragen dabei wesentlich zwei Eigenarten der Müller’schen Erzählweise bei: die interne Fokalisierung, das heißt die Beschränkung der Sichtweise und des mitgeteilten Weltwissens auf die Perspektive, oft sogar auf das konkrete Gesichtsfeld einer Figur, und die selbstbewusste Lakonie, mit der die Erzählstimme diese Sicht der Welt kommentar- und erläuterungsfrei vorträgt, häufig in Form einer Metapher, die ein tertium comparationis voraussetzt und impliziert, und eben nicht als explizierender Vergleich. Nur der Verzicht auf eine im traditionellen Sinne ›allwissende‹ Erzählinstanz oder eine Erzählstimme mit Überblick ermöglicht dem Leser eine Immersion in die erzählte Welt, bei der er Hilflosigkeit, Desorientierung und Einschüchterung der Figuren nachempfinden kann, indem er ihre notwendig beschränkte Sichtweise teilt und ähnlich wie sie darauf angewiesen ist, alle Beobachtungen als Zeichen zu deuten und zum Verständnis der Welt und der eigenen Orientierung in ihr zu nutzen – denn es ist ja gerade die behauptete Allmacht des Kontrollstaates, sein »Wir wissen alles«, 24dem die Protagonisten trotzen. Insofern ist die Wahl der Fokalisierung auch ein Bekenntnis zu den Opfern und eine Parteinahme der Autorin für sie. Die Gefahren der in bezugs- und bedeutungsreiche Details zersplitterten Weltsicht und ihre Nähe zur Paranoia liegen auf der Hand; ebenso gewichtig sind aber der poetische Mehrwert dieses ›fremd(geworden)en Blicks‹ 25und seine hermeneutisch-epistemologische Bedeutung.
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