Alle Protagonistinnen stehen am Anfang ihrer Berufsbiografie; sie verbindet die oft dörfliche oder kleinstädtische Herkunft mit dem Leben in größeren Städten, das Ausbruch aus der Enge, Freiheit, Urbanität und Aufbruch in ein eigenes Erwachsenenleben jenseits der familiären Herkunft assoziiert. Dieses erweist sich aber bald, in den Institutionen der Ausbildung, in Schule, Universität, im Arbeitsleben von Fabriken und Büros sowie im öffentlichem Leben, als ebenso von der Mangelwirtschaft gekennzeichnet wie das Landleben; zudem ist es noch vielfältiger und engmaschiger kontrolliert, die staatliche Repression in Propaganda, Beobachtung, Wohnungsüberwachung, Verhören und Verhaftungen allpräsent. Die Jugend der Protagonistinnen verstärkt diesen Befund, weil er – angesichts ihrer Erwartungen – nicht nur als Gegenwartsdiagnose in Erscheinung tritt, sondern auch die Zukunft des Landes zu bestimmen scheint, wie es der Lehrerin Adina etwa an den Erziehungsmethoden und am Anpassungsdruck im staatlichen Schulsystem beim Blick auf die Schüler vor Augen steht: »Im Gesicht des Kindes stand ein Alter, das die Kinderstimme nicht ertrug. Das Gesicht des Kindes roch nach abgestandenem Obst. / Es war der Geruch alter Frauen (…). / Als das Kind zwischen den anderen Kindern im Schulhof stand, war der Fleck an seiner Wange der Griff der Einsamkeit. Er dehnte sich aus, denn über die Pappeln fiel schiefes Licht.« 13
Die Aussichtslosigkeit einer über die Kinder in die Zukunft verstetigten Gegenwart und die mit dieser Langzeitperspektive verbundene Trostlosigkeit und Bedrückung sind zum einen ein stilistischer Effekt der auf Verstetigung, Persistenz und Wiederholung (in Ritual, Brauchtum und Gewohnheiten) angelegten Bildwelt der Autorin. Zum anderen werden sie auch in den Romanen selbst als raumübergreifend und zeitüberdauernd thematisiert, etwa wenn Überwachung und Bedrohung über Landes- und Regimegrenzen hinaus weitergehen, auch nachdem die Ich-Erzählerin (in »Herztier«) bereits im westlichen Ausland lebt. Die grundsätzliche Skepsis und die Sorge, dass die Mechanismen der Diktatur und der Machtmissbrauch auch nach Ceauşescus Sturz beständige Gefahren darstellen, klingt schon zuvor an; der erste der drei Ceauşescu-Romane erzählt über das vermeintlich ›gute Ende‹ hinaus – in ihrem Versteck auf dem Land erleben Adina und ihr Freund den Sieg der Revolution, den Sturz und die Hinrichtung des Diktatorenpaars. Konzeptionell und stilistisch klingt nicht die Befreiung nach und über das Romanende hinaus, sondern besorgte Voraussicht: »Der Erdwall des Stadions zieht das Gestrüpp enger an sich. Der letzte fliegende Ball ist vergessen, das verbotene Lied hat sich durchs Land gesungen, jetzt drückt es am Hals, wenn es um sich greift, es ist stumm. Denn die Panzer stehen noch überall in der Stadt, und die Brotschlange vor dem Laden ist lang. Der Langstreckenläufer hängt oben am Erdwall seine nackten Beine über die Stadt, ein Mantel schlüpft in den andern.« 14
Die Wandelbarkeit der politischen Bedrohung, mit dem Roman gesprochen: die Vielfalt der Mäntel und die Behändigkeit, mit der sie gewechselt beziehungsweise übereinander getragen werden, sodass unter den Schichten der Tarnung gar keine Identität mehr erkennbar ist, lässt auch die nachrevolutionäre Situation nur wie die Variation letztlich einer Grundsituation erscheinen: der Bedrohung von Freiheit, Freundschaft, Kunst und Lebensqualität durch Überwachung, Einschüchterung, intellektuelle, vor allem sprachliche, Manipulation und Unterdrückung beziehungsweise Deformation. Diese Grundthematik mag die Bezeichnung der drei Romane als »Trilogie traumatischer Beschädigung« 15rechtfertigen, sofern man sie nicht als Pathografie liest, was ja immer eine Distanzierungsbewegung vom Dargestellten impliziert, und sofern man die metaphorische Verdichtung und Variation der ›Trilogie‹ so versteht, dass hier stilistisch ein ästhetisches wie moralisches Darstellungsproblem bewältigt wird, das alle massenhaften Leidenserfahrungen kennzeichnet, nämlich den Einzelnen/die Einzelne nicht zu vernachlässigen durch eine Kollektivdarstellung und zugleich die Vielzahl und Verschiedenartigkeit der Opfer nicht zu nivellieren, indem, aus Gründen der Empathie, die literarische Darstellung auf ein Einzelschicksal fokussiert. In der Tat zeigt Müller »traumatische Beschädigung« als Normalität, denn ›heile‹ Figuren tauchen auch an den Rändern der Handlung nicht auf; wer nicht als Täter oder Opfer verstrickt ist, ist doch zumindest Profiteur oder lebt einem geradezu archaischen Egoismus, 16dessen Grausamkeit zu ignorieren auch einer Beschädigung gleichkommt. Diejenigen, deren Bedrohtheit und Verletzung durch die Diktatur im Zentrum steht, unterscheiden sich durch ihre Wachheit und ihre Resistenz, man könnte auch sagen, durch ihren Mut, und das bringt sie in näheren Kontakt mit den Überwachungs- und Kontrollorganen, in deren Vertretern sich dann Bedrohung und Demütigung konkretisieren. Auch hier ist Müllers Technik der bildhaften Konkretion, die zugleich ins Abstrakte verweist, ein Mittel, die Größe des staatlichen Apparats einerseits fühlbar zu machen und doch nicht auf einzelne Vertreter zu reduzieren. So werden Mitarbeiter der Securitate durch charakteristische Details, etwa die Schalen der gekauten Kürbiskerne, die von ihrer Anwesenheit künden, charakterisiert (»Der Fuchs …«), zugleich ist das Kürbiskernkauen so verbreitet, dass es als Indiz keine Eindeutigkeit beanspruchen und der verunsicherten Adina keine letzte Gewissheit gewährleisten kann. Ähnlich funktioniert das Motiv des weißen Hemdes oder des Anzugs: Die Kleidungsstücke markieren die Differenz der Securitate-Offiziere im Innendienst zu Arbeitern, Bauern, Mechanikern oder Studenten – insofern machen sie sie unterscheidbar. Zugleich sind sie aber formelle Kleidungsstücke und charakterisieren verschiedenste Berufe und in ihrem Uniformen-Charakter taugen sie kaum dazu, ein Individuum zu identifizieren (s. u.).
Alle Protagonistinnen der Romane geraten mittelbar über ästhetische Erfahrungen (der Wirklichkeit, der Sprache, Musik oder Literatur) oder ihren Ausreisewunsch in das Visier der Securitate und leiden darunter, dass ihre Wohnungen in ihrer Abwesenheit durchsucht (»Der Fuchs …«), ihre Freunde überwacht und befragt (»Herztier«) oder sie selbst zu Verhören einbestellt werden (»Heute wär ich mir …«). In ihrer Einschüchterung und Angst, die sie misstrauisch machen und isolieren, wähnen sie sich zeitweise im Einklang mit wenigen gleichaltrigen Freunden, Geliebten oder Vertrauenspersonen, die dann entweder durch Mord, Selbstmord oder ungeklärte Unfälle zu Tode kommen oder, schlimmer, durch Verrat die Freundschaften und Liebesbeziehungen unterminieren, das Vertrauen vergiften und die Erzählerinnen auf sich selbst zurückwerfen beziehungsweise drohen, sie an sich irre werden zu lassen – »ha, ha, nicht irr werden«, 17sind die letzten Worte der Ich-Erzählerin am Ende von »Heute wär ich mir lieber nicht begegnet«, nachdem sie Zeichen entdeckt hat, die keinen anderen Schluss zulassen, als dass ihr Mann Paul sie an die Securitate verraten hat. Die kaum mehr mögliche Hoffnung, dass es sich um einen Irrtum oder eine Fehlwahrnehmung handeln könnte, wäre nur um den Preis möglich, das Vertrauen in die eigene Weltwahrnehmung zu verlieren und sich Paranoia zu attestieren, sodass Ich-Verlust und Liebesverrat für die Protagonistin zynische, weil gleichermaßen selbstzerstörerische Alternativen darstellen. Der Verrat kennt nur Opfer und der/die Verratene verliert mehr als nur den Geliebten oder die Freundin.
Die makaber zerstörerischen Gefühlsverwirrungen, die mit dieser Grunderfahrung einhergehen, illustriert der Roman »Herztier«, wenn er Verrat und Tod gleichsam miteinander um die Schmerz-Dominanz konkurrieren lässt: Der Roman präludiert schon im vorangestellten Gedicht des rumänischen Surrealisten Gellu Naum das Thema Freundschaft und führt dann vor, dass menschliche Zuwendung und loyale Verbundenheit als ›unseriöser‹ emotionaler Luxus und gefährliche Selbsttäuschung gelten müssen in einer Welt, die den Einzelnen isoliert und Vertrauen zu einem Überlebensrisiko macht: »jeder hatte einen Freund in jedem Stückchen Wolke / so ist das halt mit Freunden wo die Welt voll Schrecken ist / auch meine Mutter sagte das ist ganz normal / Freunde kommen nicht in Frage / denk an seriöse Dinge«. 18
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