Den frühen Erzählungen und dem ersten Roman Herta Müllers ist gemeinsam, dass sie das Ineinandergreifen privater, staatlicher und geheimdienstlicher Gewalt offenlegen. An den Verletzungen der einzelnen Figuren ist das Ausmaß an Brutalität, das ihnen zugestoßen ist oder von ihnen ausgeübt wurde, abzulesen. Die Erzählungen verdeutlichen, wie die Traumata von Generation zu Generation weitergegeben werden – auch an die Nachfahren von Tätern; viele der Figuren werden, ob absichtlich oder wider Willen, zu Mitläufern, Vollstreckern oder Komplizen. Sowohl in der deutschen Dorfgemeinschaft als auch in der sozialistischen Gesellschaft steht manifeste und latente Gewalt in einem Spannungsverhältnis zur Selbstbeschreibung, in der sie jeweils vollständig eskamotiert wird. So wie die Staatspropaganda Gesellschaft und Familie als intakte Solidargemeinschaften entwirft, betrachtet sich die banatschwäbische Gemeinschaft als anderen überlegen aufgrund überlieferter und geteilter Werte wie Reinheit, Moral, Sitte, Zusammenhalt und Katholizismus. In der Bundesrepublik sind es soziale Ungleichheiten bis hin ins Prostitutions- und Obdachlosigkeitsmilieu, Vereinzelung in Kapitalismus-Rollen (Konsument, Arbeitnehmer u. a.), die zur erzwungenen Selbstentfremdung führen, wie insbesondere in »Reisende auf einem Bein« deutlich wird. Alle Texte plädieren für ein individuelles Recht auf Übergänge, das in Müllers Poetik weit über dem Anspruch der Gesellschaften auf Rollenkonformität rangiert. Kenntlich gemacht und ad absurdum geführt werden totalitäre Interdependenz von Sprachen, Institutionen, Organisationen, Werten, Selbstbeschreibungen, Überwachungsapparaten, Automatismen und Routinen sowie die Einschüchterung und Gleichschaltung der Einzelnen, mit dem Effekt, dass die Einzelnen ihrer Individualität – und das heißt: der Freiheit, gedanklich und politisch über-zu-gehen – beraubt werden.
Herta Müller (de)konfiguriert in ihrem Frühwerk unterschiedliche Erscheinungsformen von Gewalt, indem sie die Natur des Totalitätsanspruchs in seiner jeweils spezifischen Faktur offenlegt und indem sie im Namen individueller Ansprüche auf Selbstbestimmung aufzeigt, dass er eigentlich gar keinen Geltungsanspruch erheben dürfte – erstens nicht, weil die Einzelnen dadurch verstümmelt werden, zweitens nicht, weil sie letztlich auf illegitimen Macht- und Herrschaftsansprüchen beruhen und sonst in nichts begründet sind. Schon Michel Foucault hatte vorgeschlagen, die Wirkung des gesamten Relationenensembles im Raum zu bestimmen, 45welches die Macht ausmacht; mit ihrem ›Panoptikum der Todesarten‹ tut Herta Müller genau dies, aber ihr gelingt gleichzeitig eine ironische Negation dieses Panoptikums.
1Ein Überblick des Frühwerks und der Reaktionen darauf bietet bereits Norbert Otto Eke: »Herta Müllers Werk im Spiegel der Kritik«, in: Ders. (Hg.): »Die erfundene Wahrnehmung: Annäherung an Herta Müller«, Paderborn 1991, S. 107–130. Vgl. auch Dagmar Ekes Auswahlbibliografie von 1972 bis 1990 in diesem Band sowie die ausführliche Beschreibung des Frühwerks bei Julia Müller: »Sprachtakt. Herta Müllers literarischer Darstellungsstil«, Köln 2014, insb. S. 9–178. — 2Eine vollständige Übersicht der in den vier genannten Bänden enthaltenen Erzählungen sowie der gesamten weiteren Kurzprosa Müllers, die in Rumänien und in Deutschland von 1978 bis 1989 erschien, findet sich bei Julia Müller: »Sprachtakt«, a. a. O., S. 310–315. — 3Friedmar Apel: »Schreiben, Trennen. Zur Poetik des eigensinnigen Blicks bei Herta Müller«, in: Eke (Hg.): »Die erfundene Wahrnehmung«, a. a. O., S. 22–31, insb. S. 27 ff. — 4Eingehend dazu: Ralf Köhnen: »Terror und Spiel. Der autofiktionale Impuls in den frühen Texten Herta Müllers«, in: TEXT+KRITIK »Herta Müller«, H. 155 (2002), S. 18–29. — 5Iulia-Karin Patrut: »Deutsch-rumänische Sprachinterferenzen«, in: Norbert Otto Eke (Hg.): »Herta Müller Handbuch«, Stuttgart 2017, S. 124–129. — 6Herta Müller: »Barfüßiger Februar. Prosa«, Berlin 1987, S. 105. — 7Antje Janssen-Zimmermann: »›Überall, wo man den Tod gesehen hat, ist man ein bißchen wie zuhaus‹. Schreiben nach Auschwitz – Zu einer Erzählung Herta Müllers«, in: »literatur für leser«, 1991, H. 4, S. 237–249. — 8Herta Müller: »Bei uns in Deutschland«, in: Dies.: »Der König verneigt sich und tötet«, München 2003, S. 176–185, hier S. 184. — 9Ebd. — 10Müller: »Bei uns in Deutschland«, a. a. O., S. 183. — 11Ebd. — 12Ebd., S. 185. — 13Ebd. — 14Herta Müller: »Cristina und ihre Attrappe oder Was (nicht) in den Akten der Securitate steht«, Göttingen 2009, S. 18. — 15Iulia-Karin Patrut: »›Schwarze Schwester‹ – ›Teufelsjunge‹. Ethnizität und Geschlecht bei Herta Müller und Paul Celan«, Köln 2006, S. 126–154. — 16Herta Müller: »Reisende auf einem Bein«, Berlin 1989, S. 8. — 17Ebd., S. 65. — 18Vgl. Brigid Haines / Margaret Littler: »›Reisende auf einem Bein‹ (1989)«, in: Dies. (Hg.): »Contemporary Women’s Writing in German: Changing the Subject«, Oxford 2004, S. 99–117. — 19Müller: »Reisende auf einem Bein«, a. a. O., S. 98. — 20Ebd., S. 8, S. 16 und S. 62 f. — 21Ebd., S. 62. — 22Redaktion der »Neuen Literatur«: »Im Dienste des edelsten Ideals der Partei«, in: »Neue Literatur. Zeitschrift des Schriftstellerverbandes der SR Rumänien« 9 (1981), S. 4 f. — 23Ebd. — 24Julia Müller: »Sprachtakt«, a. a. O., S. 126. — 25Herta Müller: »Inge. Einem Inspektor gewidmet«, in: »Neue Literatur« 9 (1981), S. 27. — 26Ebd. — 27Ebd. — 28Siehe ausführlich dazu den Beitrag von Friedmar Apel: »Schreiben, Trennen«, a. a. O. — 29Müller: »Inge«, a. a. O., S. 29. — 30Herta Müller: »In jeder Sprache sitzen andere Augen«, in: Dies.: »Der König verneigt sich und tötet«, a. a. O., S. 7–39, hier S. 14. — 31Herta Müller: »Der Teufel sitzt im Spiegel«, Berlin 1991, S. 20. — 32Siehe dazu Friedmar Apel: »Wahrheit und Eigensinn. Herta Müllers Poetik der einen Welt«, in: TEXT+KRITIK »Herta Müller«, H. 155 (2002), S. 39–48. — 33Müller: »Inge«, a. a. O. S. 27. — 34Müller: »Der Teufel sitzt im Spiegel«, a. a. O., S. 43. — 35Müller: »Inge«, a. a. O. S. 30. — 36Müller: »In jeder Sprache sitzen andere Augen«, a. a. O., S. 12. Die Formulierung erinnert an Ingeborg Bachmanns Trilogie »Todesarten«. — 37Müller: »Inge«, a. a. O., S. 30 — 38Ebd. — 39Müller: »In jeder Sprache sitzen andere Augen«, a. a. O., S. 12. — 40Redaktion: »Im Dienste des edelsten Ideals der Partei«, a. a. O., S. 6. — 41Ebd. — 42Ebd. — 43Valentina Glajar: »Essays«, in: Eke (Hg.): »Herta Müller Handbuch«, a. a. O., S. 91–101, hier S. 98. — 44Wilhelm Solms: »Nachruf auf die rumäniendeutsche Literatur«, in: Ders. (Hg.): »Nachruf auf die rumäniendeutsche Literatur«, Marburg 1990, S. 19. Der Band enthält auch einige Paralipomena aus »Niederungen«. — 45Vgl. Anja Johannsen: »Chronotopologische Ordnungen (Raum und Zeit)«, in: Eke (Hg.): »Herta Müller Handbuch«, S. 167–176, hier S. 171.
Alexandra Pontzen
Verstrickt, gefangen, gehalten – im Netz der Romane »Der Fuchs war damals schon der Jäger«, »Herztier« und »Heute wäre ich mir lieber nicht begegnet« von Herta Müller
Herta Müllers Romane sind eigenartig und unverwechselbar. Die Autorin gewinnt dem Roman ästhetische Reize und sprachliche Qualitäten ab (oder fügt sie ihm hinzu), die traditionell nicht mit dem Genre verbunden werden, im Gegenteil. Unter Gesichtspunkten traditioneller Romanpoetik scheinen die Texte das Genre zu verfehlen: Weder sind Müllers Romane ›episch‹, indem sie ausführlich, wort- und detailreich ausholend weite historische, geografische oder biografische Bögen schlagen, noch sind sie ›narrativ‹, indem sie großformatige Tableaus oder Panoramen zeichnen, atmosphärisch eine Behaglichkeit des Erzählens mit sich führen oder dazu einladen, sich lesend zurückzulehnen beim Eintauchen in eine fremde Welt, geführt von einem kundigen Erzähler.
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