Die Erzählstimme in Herta Müllers Romanen ist eher lakonisch als eloquent, ihre Sätze sind nicht nur kurz, sondern leben von den Aussparungen, dem Nicht-Gesagten, Mitgedachten oder in einzelnen Wörtern, Wendungen und Motiven Implizierten. Ähnlich wie sonst in der Lyrik muss den Sätzen nachgedacht, müssen einzelne Bilder hin- und hergewendet werden, ist das Netz der impliziten Bezüge so eng geknüpft, dass ihre Rekonstruktion die Dynamik der Handlung ersetzt. Nicht weil nichts passierte, sondern weil die eigentliche Wucht der meist bedrückenden oder erschreckenden Geschehnisse im Text nicht mimetisch abgebildet oder expliziert wird, sondern erst im Akt der Entschlüsselung und Reflexion durch die Rezipienten/Lesenden auf diese einwirkt. Schrecken werden nicht unmittelbar dargestellt, sondern mittelbar, etwa über den Blick auf ihre Effekte, evoziert und wirken als eigene Verstehens- und Vorstellungsleistung im Lesenden umso intensiver nach.
Ähnlich wie in der Realität die Bedeutung schlechter Nachrichten die Betroffenen erst zeitversetzt erreicht, weil das Bewusstsein sich erst einmal weigert, sie zu glauben, baut Müllers Sprache, die immer auf Konkretes abzuzielen scheint und zugleich im Metaphorischen Anderes, Größeres, Unfassbares aufruft, einen Faktor der Verständnisverzögerung ein. Er intensiviert die Lektüre und verlangsamt sie zugleich und schafft damit ein eigenes Zeitgefühl, in dem Erwartungsspannung und Wahrnehmungsdehnung sich zu einem eigentümlichen Bewusstsein ›gefühlter Zeit‹ verbinden. Dieser Lektüreeffekt spiegelt zugleich eine atmosphärische Qualität der dargestellten Welt beziehungsweise ihrer Empfindung durch die Figuren wider; zwischen ›bleierner‹ Gegenwart, schmerzlicher Gegenwärtigkeit in Augenblicken aufblitzender Erkenntnis, zeitloser Vergänglichkeit und zyklischer Wiederkehr des Altbekannten bewegen sich die Zeiterfahrungen der Figuren. Sie werden alle unmittelbar bedingt durch die Lebensbedingungen in der Diktatur, deren zeitpolitisches Regime diktiert das öffentliche Leben (der Ernteeinsätze, Heizperioden, Feiertage) und die individuelle Alltagstaktung, durch das Warten auf eine Ausreisegenehmigung oder die Einbestellung zum Verhör: »Ich bin bestellt. Donnerstag Punkt zehn. Ich werde immer öfter bestellt: Dienstag Punkt zehn, Samstag Punkt zehn, Mittwoch oder Montag. Als wären Jahre eine Woche, mich wundert schon, daß es dabei nach dem späten Sommer bald wieder Winter wird.« 1
Die spezifische ›ästhetische Eigenzeit‹ von Ceauşescus Rumänien und seiner Darstellung bei Müller grundiert das Lesen ebenso wie das Gelesene und durchwirkt Müllers Romane; auch wenn Personal, Schauplätze und jeweilige Handlungen sich unterscheiden, so erkennt man sie doch als Evokationen ein- und derselben Welt beziehungsweise als spezifische Sicht- und Erlebensweise, die sich im unverwechselbaren Blick und einer eigenständigen Erzählstimme mitteilt. Blick und Stimme sind fraglos von dem Gesehenen und zu Erzählenden geprägt, markiert und vielleicht auch versehrt; aber sie vermögen es ihrerseits, dem Erlebten und seiner Erzählung ihre Prägung zu geben. Sie wirkt fort – wer durch die Schule der Müller’schen Texte gegangen ist, wird Wirklichkeit unweigerlich anders sehen. Das rückt die Autorin in die Nähe von Peter Handke, Wilhelm Genazino oder W. G. Sebald, Autoren, die vorderhand andere Themen, Plotstrukturen und narrative Formen nutzen, deren wahrnehmungsbasierte Poetik aber ebenso über die Textlektüre hinauswirkt und dazu beiträgt, dass die Autoren durch ihren werkübergreifenden Autorstil Leser*innengemeinschaften haben – wie es auch bei Herta Müller der Fall ist.
Im Zentrum von Müllers Romanwerk stehen drei Romane: »Der Fuchs war damals schon der Jäger« (1992) 2, »Herztier« (1994) 3und »Heute wäre ich mir lieber nicht begegnet« (1997). Sie erschienen in den 1990er Jahren nach der Übersiedlung der Autorin in die BRD (1987) und nach dem Sturz Ceauşescus (1989) in kurzer Folge innerhalb von fünf Jahren. Die Werke verbindet der thematische Fokus auf Ort und Zeit der Ceauşescu-Diktatur in Rumänien sowie das autofiktionale Spannungsverhältnis der Stoffe zu Ereignissen im Leben der Autorin. 4Stärker als Thema, politisch-historischer Kontext und Entstehungsumstände eint die Texte indes die intensive und unmittelbare Bildhaftigkeit, die »spezifische poetisch-stilistische Technik« 5des Erzählens. Sie bewirkt unter anderem, dass Ereignisse als Erfahrungen, Stimmungen als Wahrnehmungen und Wirklichkeit, auch die brutalste und bedrängendste, als fantastisch beseelte Blickerwiderung der Realität auf ihren Betrachter in Erscheinung treten. Das gibt der Bedrohung und Überwachung durch die Securitate, den Erfahrungen von Hunger, Mangel und Enge, der Enttäuschung und dem Verrat durch Freunde eine über den konkreten Einzelfall hinausweisende existenziell beunruhigende, unheimliche Tiefe; und es zeigt die Sprache des erzählenden Ichs zugleich auf der Höhe ihrer Ausdrucks- und Handlungsmacht – als Souverän einer Fantasie, die paradoxerweise beides sein kann: Gegenpart und Katalysator der Brutalität der Außenwelt, Erkenntnisinstrument und Waffe der Erzählstimme. Sie richtet sich auch gegen sie selbst, denn die Sprache, die eine beängstigende und vom Ich nicht zu kontrollierende Wirklichkeit ›in den Griff bekommt‹, entwirft ja neue, ihrerseits beängstigende Bilder mit Eigenleben.
Das »rhizomatische Geflecht wiederkehrender Bilder, Themen und Motive« 6hält nicht nur die einzelnen achronologisch und zum Teil elliptisch strukturierten Romane zusammen, es verbindet sie auch untereinander. So finden sich zahlreiche intratextuelle Bezüge von Zitaten, Ding-Motiven, Farbsymbolik, Plotähnlichkeiten über Metaphern und ähnlich charakterisierte Figuren (etwa zwischen den Erzählungen »Niederungen« 7und »Herztier« oder zwischen »Herztier« und den Essays »Hunger und Seide« 8). 9Das bewirkt aber keinesfalls, dass sich die Romane miteinander zu einem ›Kosmos‹ verbänden – dazu sind die Welten zu sehr in sich abgeschlossen und in ihrer Raumatmosphäre klaustrophobisch konnotiert. Insofern sind es auch weniger die topografischen Übereinstimmungen, die auf ein und denselben Handlungsort verweisen, als vielmehr die Konnotationen der Räume in ihrer politischen Bedeutung und psychoästhetischen Wirkung: Der Umstand, dass in allen Romanen der Fluss, manchmal auch explizit die Donau, vorkommt, verweist zwar auf die geografische Lage Rumäniens und hat insofern einen außerliterarischen Referenten in der politischen Topografie Osteuropas. Relevanter scheint der Fluss (Donau) indes als Teil des Motiv-, Metaphern-, und Metonymienreservoirs, das als typisches Element der Autorinnenstilistik konkret, bildhaft, intra- und intertextuell wirkt, wenn der Fluss als Grenze, Ort der Überschreitung und erhofften Freiheit und zugleich der Gefahr, des Todes (durch die Grenztruppen) und dessen Verschleierung sowie des Abschieds gesehen und verstanden wird. Intratextualität bewirkt meines Erachtens bei Müller keine Wiedererkennungseffekte, die dazu einladen, lesend die Orte, Ereignisse und Figuren in einen größeren Erzählzusammenhang im Sinne einer rumäniendeutschen Saga oder Trilogie 10einzuordnen. Vielmehr bewirken Ähnlichkeit oder gar Wiederholung eine Affirmation der schon geschulten Wahrnehmung, eine Förderung der abgründig skeptischen Lektürehaltung, der Schärfung von Ambivalenz-Sinn und Mehrdeutigkeits-Toleranz. Insofern verstärken die Romane einander zu einer Art poetischer ›bubble‹, im Sinne jener »filter bubbles«, die eine Wahrnehmungssphäre konstituieren und durch Bestätigung abgrenzen, aus der es kein Entkommen gibt, weil das Individuum sie mitnimmt, wohin auch immer es geht.
Die Mehrdeutigkeit der zuweilen surreal anmutenden Sprache und der ihr innewohnenden kreativen Fantasie kennzeichnet, bedingt durch die Wahl von Ich-Erzählerinnen (»Herztier«, »Heute wär ich mir …«) beziehungsweise personale Erzählweise (»Der Fuchs …«), die Poetik der Romane ebenso wie ihre Hauptfiguren, in allen drei Fällen Frauen um die 30: die Lehrerin Adina (»Der Fuchs …«), eine Studentin und spätere Übersetzerin in einer Fabrik (»Herztier«) sowie eine Arbeiterin in einer Konservenfabrik (»Heute wär ich mir …«). Ihr Erlebensmodus, das Bildreservoir ihrer Beschreibungen und die poetischen Funktionsweisen ihrer Realitätsverarbeitung verweisen, unabhängig von Herkunft, Bildungsgrad und Beruf der Figuren, auf eine ähnliche Fantasiebegabung. Das erklärt sich nicht allein mit dem politisch regulierten Zugang zu Studium oder Lektüre, der über Bildungsbiografien und akademische Chancen entschied, sondern mehr noch über zwei andere Implikationen: zum einen die Bildmacht der rumänischen Sprache, die das Deutsch der rumäniendeutschen Figuren umgibt und grundiert und sich auch in Redewendungen, Märchen und Sagen der Banater Dorfbevölkerung niederschlägt; zum anderen in der identitätsstiftenden und -bewahrenden Macht, die Müller der Fantasie und dem durch sie geprägten, die Objekt-Welt beseelenden Blick zuspricht 11und die sie als eine der frühesten eigenen Kindheitserfahrungen schildert. 12
Читать дальше