Nachdem sie noch ein paar Minuten sitzen geblieben war und nachgedacht hatte, erhob sich Tamber von ihrem Schreibtisch und lief über den Korridor zu Polizeioberkommissar Bøckers Büro. Svein Bøcker war ein Chef vom alten Schlag; er konnte es nicht leiden, wegen jedem Firlefanz belämmert zu werden. Hatte man allerdings ein wichtiges Anliegen, war er sehr entgegenkommend. Tamber hatte keine Bedenken ob der Wichtigkeit der Störung.
»Also, Eva, ich sehe keine andere Möglichkeit, als dass du dich auf den Weg in den Norden machst«, sagte Bøcker, nachdem sie ihn in die neuesten Entwicklungen in dem Fall eingeweiht hatte. »Ich werde mich mit der örtlichen Polizeiwache in Verbindung setzen und sie vorwarnen, dass du kommst. Arbeite mit ihnen zusammen, so gut es geht. Aber lass dir auf keinen Fall von den Einheimischen auf der Nase rumtanzen. Die leben in ihrer eigenen Welt dort oben, weißt du, und ich befürchte, dass der Fall, an dem wir gerade dran sind, eine Nummer zu groß für sie ist.« Er grinste schief. »Du brauchst dem Sheriff ja nicht gerade auf die Nase zu binden, dass ich das gesagt habe!«
Zurück in ihrem Büro, gab es noch eine Kleinigkeit zu erledigen, ehe sie sich an die Vorbereitung der Finnmarkreise machen konnte. In ihrer Schublade lag ein unbeantworteter Brief, abgestempelt in Seoul, Süd-Korea, und unterzeichnet vom Legationsrat der norwegischen Botschaft. Sie schrieben: »Sehr geehrte Eva Tamber. Es ist uns gelungen, die Frau ausfindig zu machen, die Sie suchen, Kyung-wha Lee. Sie lebt in der Hafenstadt Pusan, an der Südspitze der koreanischen Halbinsel, wo sie Musik und Tanz an einer städtischen Schule unterrichtet. Ich habe heute persönlich mit ihr telefoniert. Sie ist 59 Jahre alt, allein stehend, kinderlos. Als ich ihr von Ihnen erzählte, begann sie zu weinen. Sie sagte, alle Menschen in ihrem Land seien um die Wiedervereinigung ihrer Familien bemüht, damit sie ihre Verwandten aus Nordkorea vor ihrem Tod noch einmal sehen könnten. Aber sie habe keine Familie. Nur die unbekannte Tochter, die sie direkt nach der Geburt weggeben musste, weil sie allein war und niemanden hatte, mit dem sie die Last der Versorgung teilen konnte. Außerdem, hat sie mit tränenerstickter Stimme hinzugefügt, bedeutete damals ein uneheliches Kind eine große Schande. Sie beendete das Gespräch mit der dringenden Bitte, Sie zu bitten, ein paar Worte an sie zu schreiben und vielleicht ein Bild zu schicken. Sie will dafür beten, dass Sie eines Tages wieder zusammengeführt werden. Lassen Sie sich Zeit, die Sache in Ruhe zu überdenken, und treffen Sie eine eigene Entscheidung. Für den Fall, dass Sie zu dem Entschluss kommen, Kontakt aufnehmen zu wollen, lege ich Ihnen ihre Telefonnummer und Anschrift bei. Es ist mir immer eine große Freude, in solchen Angelegenheiten behilflich sein zu können. Mit freundlichen Grüßen ...«
Eva Tamber faltete den Brief langsam zusammen und starrte gedankenverloren vor sich hin. Noch lange, nachdem sie den Umschlag wieder in die Schublade zurückgelegt hatte, spürte sie die Anspannung in ihrem Körper. Wie ihre Mutter wohl aussah? Ob sie sich ähnlich waren?
Nichts!
Ulla Abildsø schaute frustriert auf die Armbanduhr. Zehn vor vier. Nur noch vierzig Minuten, bis das Archiv geschlossen wurde. Und noch immer suchte sie vergeblich nach Dokumenten, die Licht auf das warfen, was im Herbst 1961 mit der Mannschaft auf dem Boot ihres Vaters geschehen war. Die Mappen der Archivserie 136 »Die Atombombe« und 611 »Wärmelehre« für das Jahr 1961 waren überraschend dünn, und das wenige, was darin stand, drehte sich im Großen und Ganzen um andere Dinge als die sowjetischen Probesprengungen auf Nowaja Semlja. Die einzige Ausnahme machten einige Berichte der Gesundheitsbehörde, die außerordentliche Einsätze in Finnmark ankündigten. Im schlimmsten Fall würde es zu einer teilweisen Evakuierung der Bevölkerung kommen. Dagegen gab es keinerlei Informationen über die eigentlichen Atomtests, über die in den Mappen von 1958 so viel gestanden hatte.
Sie hatte einen dicken Kopf, einen Bärenhunger – und sehnte sich verzweifelt nach einer Tasse Kaffee. Aber das musste verschoben werden. Jetzt galt es, die Zeit zu nutzen, die ihr noch blieb. Sie sah keine andere Möglichkeit, als die Archivleiterin um Hilfe zu bitten.
»Entschuldigen Sie ...«
Frau Hansen riss den Blick missmutig vom PC-Bildschirm los. Sie ließ die Hände auf der Tastatur liegen, wie um klarzustellen, dass sie höchstens eine kurze Unterbrechung ihrer Schreibarbeit duldete.
»Bitte?«
Ulla erklärte ihr, dass in den Mappen von 1960 – 63 auffallend wenig Information über die Zusammenhänge zu finden war, die sie interessierten. Ob es eventuell sein könnte, dass jemand die entsprechenden Informationen aus den Mappen entfernt hatte?
Nein, das hielt Frau Hansen für ausgeschlossen. Über die Mappen wurde genauestens Protokoll geführt. Wenn etwas entfernt worden war, müsste das aus dem Protokoll hervorgehen.
»Meines Wissens ist noch nie etwas verschwunden.«
»Gibt es möglicherweise noch andere Archivserien oder Mappen?«
»Sie haben alles vorliegen, was relevant für Ihre Arbeit ist. Glauben Sie mir, ich kenne das Zentralarchiv wie meine Westentasche.«
»Hatten die einzelnen Abteilungen keine eigenen Archive?«
»Na ja ...« Frau Hansen zögerte mit der Antwort. »Da gäbe es noch das Fernarchiv der Physikalischen Abteilung. Ich kann nicht ausschließen, dass ...«
»Könnten wir vielleicht dorthin gehen und nachschauen?«, unterbrach Ulla sie. »Wenn’s geht, jetzt gleich!«
Frau Hansen warf einen mürrischen Blick auf die Wanduhr und drehte sich mit einer Miene zu Ulla um, die keinen Zweifel daran ließ, was sie von dieser Idee um diese Uhrzeit hielt.
»Wenn Sie partout darauf bestehen. Aber es ist ein ganzes Stück zu gehen ...« Frau Hansen sah forschend auf Ullas Beine, als sie das sagte. »Wir müssen ins Nachbargebäude«, fuhr sie fort und klirrte mit dem Schlüsselbund. »Die älteren Dokumente sind in einem feuchten Kellergewölbe der Physikalischen Abteilung begraben.« Sie verzog das Gesicht zu einem säuerlichen Lächeln. »Die Akten bergen nicht nur alte Geheimnisse, sie setzen allmählich auch Schimmel an!«
Sie zogen ihre Mäntel an und begaben sich hinaus ins Schneegestöber. Das Gebäude der ehemaligen Physikabteilung lag ein paar hundert Meter weiter in dem abgesperrten Gelände: ein hellgelbes, zweistöckiges Steinhaus mit Satteldach und Mansardenfenstern auf dem Dachboden. Der Schnee fiel jetzt so dicht, dass ihre Spuren sofort zuschneiten, sobald sie den Fuß hoben.
Frau Hansen geleitete Ulla durch eine Reihe geschlossener Türen. Die letzte führte zu einer Kellertreppe. Sie gingen nach unten und passierten ein paar große Räume, die vom Boden bis zur Decke voller Regale standen. Ulla sah sich neugierig um. In den Regalen standen dicht an dicht schmale Pappschachteln und Kunststoffkassetten, alle mit römischen Ziffern, Datum und einem Buchstabencode beschriftet, den sie nicht deuten konnte.
»Niederschlagsproben«, sagte Frau Hansen beiläufig und strich im Vorbeigehen mit dem Zeigefinger über die Rücken der Kästen. »Hier sind sämtliche Niederschlagsproben gesammelt, die jemals von den Messstationen im ganzen Land ans FFI geschickt wurden. Mit Hilfe eines Prozesses, der ›Veraschung‹ genannt wird, konnte man die Niederschlagsproben einer spektografischen Analyse unterziehen und sie über lange Zeiträume aufbewahren. Ich glaube, wir haben alle Proben seit 1957 behalten. Wohl in der Hoffnung, dass eines schönen Tages jemand auftaucht, der sie noch einmal sehen will. Etliche der gefährlichsten Kernspaltprodukte haben ja eine Halbwertszeit von mehreren tausend Jahren. Noch ist es also nicht zu spät. Können Sie mir folgen?«
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