„Du kannst ins Tor, wenn du willst. Dann können wir auch mal gegeneinander spielen, der Bobbel und ich.“
„Als Torwart musst du aber auch die Bälle holen, das ist klar. Ich hab mir da was gezerrt und verzieh ihn heute öfter mal.“
Gerd lächelte.
„Schon klar.“
Er war eine Niete im Tor. Nicht nur, dass er vor jedem zweiten Schuss die Flucht ergriff. Selbst wenn er den Mut aufbrachte, die Hand nach einem nicht ganz so hart geschossenen Ball auszustrecken, fasste er doch meistens ins Leere und betätigte sich so die meiste Zeit als Ballholer. Da ich natürlich wesentlich weitere Wege gehen konnte als mein Freund Bobbel, dem das Laufen eine eher unangenehme Begleiterscheinung dieses Sports war, meldete er, Bobbel, bald den Wunsch an, doch auch noch mal ins Tor zu gehen. Er musste verschnaufen.
Gerd behauptete, erst wenige Male vor einen Fußball getreten zu haben. Wir glaubten es ihm auch, hatten wir ihn doch noch nie dabei beobachtet. Es wurde zu unserem Topthema in den darauffolgenden Wochen: Ob es an seiner schmalen Körperform und einer daraus resultierenden Wendigkeit lag? Ob seine Tanzstunden ihm eine universelle Kontrolle über die Füße verliehen hatten, die ihn in die Lage versetzten, damit zu tun, was er wollte? Ob er über eine wundersame Begabung verfügte, ob er schlicht ein Naturtalent war? Gab es erblich bedingte Faktoren? Wir rätselten. Fakt war jedenfalls, dass der schöne Gerd vom ersten Moment an dribbelte wie ein Weltmeister, einen Übersteiger nach dem anderen vollführte und mich, der ich mir doch immerhin ein bisschen was auf mein Können einbildete, aussehen ließ wie einen blutigen Anfänger, der gerade mal wusste, wie man geradeaus lief, ohne sich zu überschlagen.
Diese ungeahnten Fähigkeiten ließen ihn in unserer Achtung natürlich ungefähr drei Kilometer steigen. Dass er dabei bescheiden blieb, sich abseits des Platzes als unterhaltsam und verlässlich erwies und nicht zuletzt das andere Geschlecht an den Spielfeldrand lockte – auf diese Weise kamen übrigens auch Bobbel und ich letztlich in den Genuss unserer ersten Freundinnen –, machte ihn schließlich zum dritten, fest installierten Mann in unserem Bunde.
Wie gesagt, er war leidenschaftlich in der Liebe. Hatte er sich eine Frau in den Kopf gesetzt, konnte er schmachten wie ein Italiener, bis sie ihm hold war – zum Beispiel ist ein auf Fußballer versessenes Weibchen der genaue Grund dafür gewesen, dass er damals überhaupt mit uns hatte spielen wollen. Nach höchstens vier Wochen lief er dann einer anderen über den Weg, in die er sich auf der Stelle unsterblich verliebte, so dass er die andere – der zwischenzeitlich das Blaue vom Himmel versprochen worden war – möglichst menschenfreundlich, möglichst schnell abservieren musste. Gerds Liebesleben wurde zum Dauerbrenner in unserer kleinen Truppe, und wir genossen es, an seinen Höhen und Tiefen, an seinen Verwicklungen und Leidenschaften teilzuhaben, ohne sie selbst so ernsthaft zu empfinden, wie er es tat.
Als er einundzwanzig Jahre alt war, begegnete er auf der Cranger Kirmes seiner späteren Frau Carmen. Sie war wirklich eine Fackel. Voller Lebensfreude und klug dazu. Zu Gerds Verhängnis wollte sie lange nichts von ihm wissen. Zumindest hatte sie kein Interesse an einer ernsthaften Verbindung, während Gerd sich schon die Hochzeit ausmalte und für immer mit ihr zusammenbleiben wollte. Wenn er uns Freunden davon erzählte, aufgelöst wie er war in solchen Fällen, nickten wir einander anfangs noch wissend zu, ahnten wir doch den weiteren Verlauf der Geschichte mit Höhenflug und Absturz bereits voraus. Als Gerd nach einem halben Jahr jedoch immer noch vergeblich um ihre Gunst buhlte, merklich abgenommen hatte und anfing, sich beim Fußball Unkonzentriertheiten zu leisten, wurde uns klar, dass es anders war.
Um es abzukürzen: Natürlich bekam Gerd schließlich seine Carmen. Sie heirateten tatsächlich. Und natürlich geschah nach wenigen Jahren, die die beiden durchaus glücklich zusammen verbrachten, das Unvermeidliche. Gerd wurde es langweilig. Er entdeckte Kleinigkeiten an ihrem Aussehen und Verhalten, die ihm die ganze Frau verleideten. Am Ende lief er irgendeiner gerade volljährig gewordenen, großbusigen Uschi über den Weg, der er hinterherstelzte wie ein Esel der Möhre.
Seither gibt es immer irgendeine Gespielin neben seiner Frau Carmen, die er doch nicht verlassen kann. Gerds Leben ist ein einziges Geschichtenspinnen geworden, mit dem Ziel, stets die Existenz der einen vor der anderen zu verbergen, sich selbst als jemanden zu zeichnen, der er nicht ist und nie war, und das Ganze noch irgendwie als eine Freude zu erleben.
„Ernsthaft, Gerd. Für die nächsten zwei Stunden ist deine einzige Freundin kugelrund und hat eine Haut aus Leder.“
„Ist doch genau mein Typ.“
„Werd bloß nicht frech, Bürschchen.“
Wir nehmen noch etwas Flüssigkeit zu uns, losen die Seiten aus und halten die standesgemäße Begrüßung an der Mittellinie ab. Manni und Gerd stoßen an. Wir lassen den Ball erst mal laufen und sehen, was der Gegner macht, wie die Herner drauf sind, konditionell und motivationsmäßig. Sie haben zwei Schwergewichte in der Abwehr, die mit einfachen Doppelpässen leicht auszuhebeln wäre. Im Mittelfeld ist es schon schwieriger. Friddo hat einen guten Tag und ackert zentral wie ein Wilder. Er ist mal auf der einen, mal auf der anderen Seite, hilft hinten aus, wenn wir in die Nähe des Sechzehners kommen, und bemüht sich nach vorne hin Druck aufzubauen, was ihm seine schwerfälligen Mitstreiter allerdings nicht gerade leicht machen. Nach vielleicht zwanzig Minuten hat er schon drei Steilpässe gespielt, die uns sicher den Rückstand eingebracht hätten, wäre einer der Stürmer im richtigen Moment losgelaufen. Oder überhaupt losgelaufen. Friddo ist ein bisschen sauer über die Leistungsbereitschaft seiner Kameraden, aber er schimpft nicht. Er weiß, dass das sowieso nichts besser machen würde. Eher im Gegenteil. Er handelt genau richtig, indem er gegen Ende der ersten Halbzeit seinen Frust sammelt, in die Füße verschiebt, und mit der gewonnenen Energie einen Alleingang über das ganze Feld antritt, auf dem er sämtliche Gegenspieler aussteigen lässt. Und an dessen Ende er die Kugel mit der Abgeklärtheit eines Profis ins rechte untere Eck einschiebt.
Willy steht am Rand und tobt. Er gibt während des Spiels eigentlich nie Anweisungen, abgesehen davon, dass er mit einem Feuerzeug herumfuchtelt, mit dem er uns vermitteln will, er werde uns schon Feuer unterm Hintern machen. „Acki! Acki!“, ruft er dann. Und wenn man hinsieht, zündet er es an und sieht einem fest in die Augen. „Jetzt mach aber mal los!“
In der Halbzeit wird er dann ausführlicher. Während wir auftanken, geht er sämtliche Positionen durch: „Gerd, katastrophal. Ich will nicht wissen, wo du mit den Gedanken bist. Aber ich weiß es. Und das macht mich wahnsinnig. Was hab ich dir vor dem Spiel gesagt, Mensch? Du Spatzenhirn! Mach dich mal frei! Manni, zwei, drei ganz passable Ansätze. Versuch’s ruhig mal mit langen Bällen in die Spitze. Die beiden Fleischklöppse dahinten sind doch lahme Enten. Aber dann muss natürlich auch einer starten und vorne drin sein. Acki, Gerd, ihr seid gemeint! Bobbel, hast ziemlich alt ausgesehen, wie der Spielführer dich da ausgetanzt hat, das hab ich schon besser von dir gesehen. Ingo und Freddi, ihr sucht mir in der zweiten Hälfte jetzt mal die Wege nach vorne, ihr Schlaftabletten. Da kommt ja nix von denen über die Flügel. Da könnt ihr doch mal was probieren! Murat, gut, bis auf das Gegentor. Den hätt wahrscheinlich meine Oma noch rausgefischt. Und die ist längst hinüber. So. Austrinken, weitermachen.“
In der zweiten Halbzeit neutralisieren sich die Mannschaften weitgehend im Mittelfeld. Friddo ist ziemlich im Eimer, auch von ihm kommt jetzt nicht mehr viel. Eine erwähnenswerte Szene findet noch statt, als Bobbel beim Versuch, den Ball nach vorne zu schlagen, ungünstig mit der Pieke in den Boden drischt und im Anschluss daran für einige Minuten behandelt werden muss. Das heißt, ein Bier trinken. Wir überstehen das Unterzahlspiel jedoch ohne weiteren Gegentreffer.
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