»Paps, ich …«
»Michaela«, sagte Isabella sanft. »Hab Vertrauen zu uns. Wir wollen doch nur dein Bestes. Du bist noch viel zu jung, um dies alles zu verstehen. Später wirst du uns einmal dankbar sein.«
Michaela sprang auf. »Dankbar? Dafür, daß ihr mich einsperrt?«
»Kind, sei vernünftig …«
»Schluß mit dem Gerede«, befahl jetzt Erhard Schneider laut. »Michaela, du hast dich unglaublich benommen. Ich habe zumindest etwas Einsicht von dir erwartet. Aber anscheinend habe ich mich auch darin getäuscht. Verschwinde jetzt in dein Bett. Ich hoffe, daß du morgen früh vernünftiger bist.«
Mit Tränen in den Augen sah Michaela ihre Eltern an. Dann drehte sie sich ohne Gruß um und rannte aus dem Zimmer.
Am nächsten Morgen läutete es kurz vor neun an der Schneiderschen Villa. Anna Beermann, die Haushälterin, öffnete. Eine blonde, nicht mehr ganz junge Dame im grauen Persianermantel trat ein.
»Könnte ich Frau Schneider sprechen?« fragte sie atemlos. »Es ist sehr dringend.«
»Ich fürchte, das ist unmöglich«, sagte die Haushälterin, »die Herrschaften schlafen noch.«
»Aber es ist wirklich ungeheuer wichtig … Bitte, wecken Sie Frau Schneider. Sagen Sie, Gerda Ackermann ist da.«
»Anna, was ist denn los?« ertönte plötzlich Isabellas Stimme vom Obergeschoß des Hauses, wo die Schlafgemächer lagen.
»Eine Frau Ackermann möchte Sie sprechen«, gab die Haushälterin zurück.
»Augenblick … ich komme sofort!«
Wenige Minuten später kam Isabella die geschwungene Treppe zur Diele herunter. Über ihrem Pyjama trug sie einen eleganten Morgenrock aus blauer Seide, der das Blau ihrer Augen unterstrich. Ihr braunes Haar war vom Schlaf noch in Unordnung.
Sie nickte Gerda Ackermann kurz zu und ging voraus ins Wohnzimmer. »Komm herein«, sagte sie hastig zu der Besucherin. Bereits in der Tür wandte sie sich noch einmal um. »Anna, achten Sie darauf, daß wir nicht gestört werden … Falls mein Mann oder Michaela herunterkommt, sagen Sie mir sofort Bescheid.«
Sie schloß die Tür und sah Gerda Ackermann an. »Was willst du? Wir hatten abgemacht, daß wir uns nur außer Haus treffen …«
»Es ist etwas Furchtbares passiert, Isa … Till Torsten, dein Bruder, ist wieder in München.«
»Ich weiß«, sagte Isabella Schneider gelassen.
»Warum hast du mich nicht gewarnt?«
»Damit mußten wir rechnen. Was regt dich daran so auf?«
»Das fragst du noch?«
»Du hast keinen Grund, dich vor Till zu fürchten. Er hat nicht die leiseste Ahnung, wie du jetzt heißt, daß du verheiratet bist, wo du wohnst … vielleicht erkennt er dich überhaupt nicht mehr wieder … nach all den Jahren …«
»Ich jedenfalls habe ihn wiedererkannt.«
»Ja du … das ist doch kein Vergleich. In deinem Leben hat es zwei Männer gegeben, Till Torsten und Arnold Ackermann. Aber was glaubst du, wieviel Frauen in seinem Dasein eine Rolle gespielt haben?«
»Ich habe entsetzliche Angst, Isa.«
»Wovor denn? München ist eine Millionenstadt. Eine Begegnung wäre unwahrscheinlich. Und selbst wenn … was hätte es zu bedeuten? Ich kann mir kaum vorstellen, daß du noch einmal auf Till hereinfallen wirst.«
»Darum handelt es sich doch gar nicht. Es ist nur … Arnold weiß nichts von der Geschichte.«
Isabella hob die geschwungenen Augenbrauen. »Du hast ihm nichts erzählt?«
»Wie sollte ich. Arnold trägt mich auf Händen. Und da soll ich ihm sagen, daß ich ihm von Anfang an etwas verheimlicht habe?«
»Immer noch besser, als wenn er es durch Till erfährt. Das fürchtest du doch?«
»Ja.«
»Till macht nur Sachen, die ihm etwas einbringen.«
»Eben.«
In diesem Augenblick wurde leise gegen die Tür geklopft. Die beiden Frauen fuhren erschreckt zusammen. »Was ist?« fragte Isabella.
Hinter der Tür war die Stimme der Haushälterin zu hören. »Ihr Gatte und Michaela sind zum Frühstück heruntergekommen.«
»Ich komme gleich. Sie sollen schon anfangen.«
Isabella wandte sich an die Besucherin. »Du mußt schnell durch die Diele zum Ausgang.«
Als die Haustür hinter Gerda Ackermann ins Schloß gefallen war, kam Erhard Schneider, die Serviette in der Hand, aus dem Frühstückszimmer. »Was war das für ein Besuch?«
Isabella lächelte ihn an und küßte ihn rasch auf die Wange.
»Nichts Wichtiges, Erhard«, sagte sie. Aber sie spürte, wie eine jähe Angst in ihr hochkroch.
Nach dem Mittagessen, als die Eltern sich niedergelegt hatten, gelang es Michaela, das Haus ungesehen zu verlassen.
Die Schuhe in der Hand, schlich sie die Treppe hinunter und ließ die Tür so leise wie möglich ins Schloß fallen.
Erst hinter der Vorgartentür begann sie zu laufen. Sie rannte, bis sie vor dem kleinen Café in der Holbeinstraße ankam.
Das Telefon stand hinter der Kuchentheke. Noch war kein Gast da, der ihr Gespräch hätte mit anhören können.
Das Mädchen wählte Gregors Nummer. Er war selbst am Apparat. »Greg«, sagte sie atemlos, »hast du Zeit?«
»Wo brennt’s denn?« war seine erstaunte Stimme zu hören.
»Das kann ich nicht am Telefon erzählen … Bitte, komm mal, Greg, ich bin im Café Holbein . Ich warte auf dich«, sagte sie eindringlich und legte schnell den Hörer auf.
Michaela setzte sich an einen der kleinen weißlackierten Tische und bestellte eine Tasse Tee mit Zitrone. Die Zeit wollte und wollte nicht vergehen. Alle zwei Minuten sah sie auf die Armbanduhr.
Plötzlich war eine Viertelstunde vorbei, und Gregor war immer noch nicht gekommen. Wenn er sie nun im Stich ließ? Seine Stimme am Telefon hatte nicht besonders freundlich geklungen. Vielleicht glaubte er, daß sie ihm nachliefe. Das wäre das Allerschlimmste …
Als Gregor endlich das Café betrat, hatte Michaela schon alle Hoffnungen aufgegeben. Sie mußte ihre ganze Kraft zusammennehmen, um sich gleichgültig zu stellen. Sie beugte sich tief über ihren Tee und tat, als ob sie ihn nicht bemerkt hätte.
»Hallo, Micky«, sagte Gregor.
Michaela hob den Kopf. »Greg … etwas ganz Scheußliches ist passiert … Gestern abend haben mich meine Eltern erwischt.«
»O je … wieso denn …?«
»Vielleicht war es blöd von mir … aber ich bin noch mal runtergegangen ins Wohnzimmer … Ich hatte das Gefühl, daß sie mein Wegbleiben bemerkt hatten.«
»Und?«
»Sie waren im Bilde.«
Die beiden jungen Leute schwiegen, während die Serviererin den Tee für Gregor brachte.
»Das schlimmste ist«, sagte Michaela, »meine Eltern sind gar nicht meine Eltern.«
»Wie kommst du denn darauf? Haben sie dir das gesagt?«
»Ich habe es ganz zufällig gehört. Bevor ich zu ihnen ins Zimmer ging.«
»Hast du sie denn gefragt, und was haben sie dir erwidert?«
»Sie tun so, als ob ich mich verhört hätte.«
Gregor zündete sich eine Zigarette an. In seinen Augen stand freundlicher Spott.
»Du glaubst mir nicht?«
»Nein, das ist doch Irrsinn. Wenn sie wirklich nicht deine Eltern wären, warum sollen sie es dir dann nicht sagen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte sie zögernd.
»Aber ich weiß es. Das ganze ist Quatsch … Hast du mich etwa nur herbestellt, um mir diesen Unsinn zu erzählen?«
»Natürlich nicht … sie haben mir verboten, dich zu treffen. Sie tun, als wäre es wegen der Schule. Aber in Wirklichkeit …« Sie stockte.
»Na?«
Michaela errötete. »Es ist deshalb, weil du schon zwanzig bist … Und kein Schüler mehr … Du weißt, was ich damit meine.«
»Aber das ist doch Unsinn, daß wir … etwas miteinander haben.«
»Red du es ihnen doch aus!«
»Das werde ich auch.«
»Sie glauben, wir treiben uns rum … Du darfst ihnen deshalb nicht sagen, daß wir schon öfter zusammen aus waren. Ich wollte gar nicht lügen, aber sie waren so aufgeregt.«
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