Wenige Minuten später lag Michaela im Bett. Sie hatte ihr Kopfkissen zusammengerollt und hielt es fast zärtlich an sich gepreßt. Um ihren vollen kindlichen Mund spielte ein Lächeln. Sie war müde und ganz wunschlos.
Plötzlich durchfuhr sie ein Gedanke. Im selben Moment war sie wieder hellwach und richtete sich steil im Bett auf. Wenn die Eltern nun gemerkt hatten, daß sie nicht zu Hause gewesen war? Wenn sie auf sie warteten?
Michaela überlegte eine Sekunde, dann kletterte sie aus dem Bett, öffnete behutsam die Zimmertür und schlich auf nackten Sohlen die schmale, geschwungene Treppe hinunter.
Aus dem Wohnzimmer kam kein Laut. Michaela preßte ihr Ohr an die Tür. Es war so still, daß sie glaubte, das zarte, unablässige Ticken der kleinen antiken Uhr vernehmen zu können. Sie warf einen Blick über die Schulter. Die vertraute Diele wirkte im fahlen Mondlicht, das durch einen breiten Spalt des Vorhangs fiel, kalt und ganz fremd. Eine Treppenstufe knarrte.
Michaelas Herz klopfte bis zum Hals. Am liebsten hätte sie sich umgedreht, wäre wieder hinaufgelaufen und hätte die Tür ihres Zimmers hinter sich abgeschlossen. Aber sie wußte, daß sie jetzt kein Auge zutun konnte, bevor sie nicht Gewißheit hatte.
Plötzlich hörte sie die Stimme ihrer Mutter, seltsam verändert, spröde, fast tonlos. »Bitte, Erhard … ich habe keine Zigaretten mehr.«
»Ist auch besser so«, erwiderte der Vater rauh, und Michaela spürte, daß er unter der Grobheit seine eigene Erregung verbergen wollte. »Komm, gehen wir schlafen.«
»Glaubst du, daß ich ein Auge zutun könnte?«
»Natürlich kannst du. Du brauchst bloß zu wollen. Nimm von mir aus ein Schlafmittel.«
»Ach, Erhard …!«
Wieder Stille, eine Stille, die mit Gefühlen, die keinen Ausdruck fanden, gleichsam überladen war. Michaelas Knie zitterten. Sie mußte sich an die Wand lehnen.
»Ich begreife nicht, wie sie uns das antun kann«, hörte sie ihren Vater sagen.
»Das arme Kind!« Die Stimme der Mutter war kraftlos. »Ich … mein Gott, wir … was haben wir falsch gemacht, Erhard?«
»Wir … wir … immer wir! Warum suchst du die Schuld bei uns? Warum suchst du sie nicht dort, wo sie wirklich liegt? Wir haben alles für sie getan, was in unseren Kräften steht. Sie hat, was sie braucht und noch mehr. Wenn trotzdem solche Sachen Vorkommen, dann kannst du die Schuld doch nicht bei uns suchen! Dann ist das Kind einfach zu … na, sagen wir … labil!«
»Und wenn sie das ist, ist es ihre Schuld?«
Nach einer kleinen Pause sagte der Vater: »Na ja, vielleicht hast du recht, wer kann schon für seine Veranlagung … Ich hätte damals eben nicht nachgeben sollen. Es war ein zu großes Risiko, sie anzunehmen.«
»Glaubst du, bei einem eigenen Kind wäre das Risiko geringer?«
»Vielleicht nicht. Aber dann weiß man doch wenigstens …«
Er kam nicht mehr dazu, den Satz zu Ende zu sprechen. Ehe Michaela noch wußte, was sie tat, hatte sie die Tür aufgerissen und war ins Zimmer gestürzt. Sie starrte die Eltern mit weit aufgerissenen Augen an.
»Ich … ich bin nicht euer Kind?« stammelte sie.
Isabella und Erhard Schneider starrten Michaela wortlos an. Dann löste sich Isabellas Verkrampfung. Sie sprang auf, eilte auf das Mädchen zu und schloß es zärtlich in ihre Arme.
»Gott sei Dank, daß du wieder da bist, Liebling … Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht«, stammelte sie.
Michaela fühlte die Tränen ihrer Mutter auf der Stirn. Auch sie mußte plötzlich weinen. »Mutter«, flüsterte sie, »ist es wahr … ich bin nicht euer Kind?«
»Natürlich bist du unser Kind … unser kleines Mädchen«, erwiderte Isabella. »Spürst du das denn nicht?«
»Aber, ihr habt doch selbst gesagt …«
»Wann?« fragte Erhard Schneider.
Michaela errötete. »Eben. Bevor ich ins Zimmer kam …«
»Du hast gelauscht?«
»Ich habe es gehört.«
»Dann passe das nächstemal besser auf, wenn du schon an den Türen horchst.«
»Aber ich habe mich nicht geirrt …«
»Unsinn. Willst du etwa behaupten, daß wir dich belügen?«
Michaela schwieg verwirrt.
»Na also. Und jetzt möchte ich endlich wissen, wo du herkommst.«
Michaela sah an ihrem kurzen Nachthemd hinunter. »Aus dem Bett.«
»Willst du uns vielleicht weismachen, daß du den ganzen Abend friedlich geschlafen hast, während die Mutter und ich vor Sorgen fast verrückt geworden sind?«
»Nein.«
»Wann bist du nach Hause gekommen?«
»Ich weiß es nicht … Ich habe nicht auf die Uhr geschaut.«
»Vielleicht kannst du uns wenigstens sagen, wie du ins Haus gekommen bist. Die Haustür ist nämlich seit Stunden verriegelt.«
»Ich bin über das Spalier in mein Zimmer geklettert.«
»Um Himmels willen, Kind … du hättest dir ja die Beine brechen können«, rief Isabella Schneider entsetzt.
»Reg dich nicht auf, Isa«, sagte ihr Mann. »Du siehst, daß ihr nichts passiert ist. Wahrscheinlich hat sie diese Kletterpartie nicht zum erstenmal gemacht, oder?«
Michaela warf trotzig ihr langes blondes Haar über die Schultern zurück. »Was hätte ich sonst tun sollen? Du sagst ja selbst, die Tür war verriegelt.«
»Klingeln … zum Beispiel.«
»Ich wollte euch nicht wecken.«
»Hast du dir wirklich eingebildet, wir wären zu Bett gegangen, während du dich bis nach Mitternacht irgendwo in der Stadt herumtreibst?«
»Ich habe mich nicht herumgetrieben.«
»Nein? Wo warst du dann?«
»Tanzen.«
Erhard und Isabella Schneider wechselten einen Blick.
»Mit wem?« fragte Isabella.
Keine Antwort.
Isabella blickte lange in das verstockte Gesicht ihrer Tochter.
»Du weißt doch, daß wir es nur gut mit dir meinen.«
Aber Michaela schwieg weiter.
»Du packst sie ganz falsch an, Isa«, sagte Erhard Schneider wütend. »Ich habe dir schon tausendmal gesagt, daß du sie zu sehr verwöhnst. Jetzt hast du das Ergebnis … Ein verstocktes, verlogenes Kind, das sich nachts in Tanzlokalen herumtreibt.«
Er zog das Schreiben von Michaelas Schuldirektor aus der Tasche. »Kennst du den Brief?«
»Nein …«, erwiderte Michaela leise.
»Du weißt also nicht, daß dein Direktor uns geschrieben hat? Daß deine Versetzung gefährdet ist?«
»Von dem Brief habe ich nichts gewußt. Aber der Direx hat mir natürlich schon gesagt, daß ich schlecht stehe.«
»Und wie soll das nun weitergehen mit dir?«
»Ich werde mich eben mehr anstrengen müssen.«
»Schön, daß wir uns wenigstens in diesem Punkt verstehen … Warum bist du erst nach Mitternacht nach Hause gekommen?«
»Ich wollte tanzen, Paps … wozu habe ich es denn gelernt, wenn ich es nicht darf?«
»Du kannst ja mit uns ausgehen.«
»Wann? Und überhaupt: Das ist doch nicht dasselbe.«
»Immerhin hätten wir dich pünktlich nach Hause gebracht, wie es sich gehört. Mit wem warst du tanzen?«
»Mit Greg.«
»Das ist doch kein Name.«
»Mit Gregor Hellmer. Er arbeitet in einer Bank.«
»So, so. Wie alt ist dieser Knabe eigentlich?«
»Zwanzig …«
»Na hör mal, ein zwanzigjähriger Mann, der schon im Leben steht, ist kein Umgang für ein Schulmädchen. Seit wann kennst du ihn?«
»Schon ne ganze Weile.«
»Hat er jemals etwas von dir verlangt …«
Seine Frau unterbrach ihn. »Nicht, Erhard. Bitte nicht.«
»Wunderbar. Du weißt es wieder einmal besser.«
Erhard Schneider füllte sich ein neues Glas Kognak ein und leerte es in einem Zug. »Diesen Greg siehst du nicht wieder!«
»Aber … Greg kann wirklich nichts dafür, daß es so spät geworden ist. Er ist anständiger, als ihr glaubt. Er ist mein einziger Freund.«
»Das wird ja immer schöner. Mit sechzehn braucht man keinen Freund. Und schon gar keinen Zwanzigjährigen, der sicherlich schon einiges erlebt hat … Damit du nicht in Versuchung kommst, diesen Burschen wiederzutreffen, verbiete ich dir hiermit, das Haus ohne Erlaubnis zu verlassen.«
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