Was macht jemanden zur Autorin? Lesen und schreiben, klar. Aber auch das Hinaustrauen, der erste Zuspruch, der vielleicht irgendwann zu einer Veröffentlichung führt. Sich den Kopf stoßen, auf Zusagen hoffen und Absagen erhalten gehört ebenfalls dazu. Jurys sind im Leben einer Autorin ein seltsames Gebilde, das im Hintergrund Weichen stellt. Auf irgendeine Entscheidung wartet man immer, oft monatelang, und immer wieder tun sich neue Schranken und Übergänge auf.
Und dann kommt der Punkt, an dem die Autorin selbst in einer Jury sitzt und für das Vorwort der Anthologie etwas schreiben soll. Es ist uns nicht , tippe ich zuallererst und lösche diesen Satzbeginn sofort, weil zu erwartbar ist, was darauffolgt.
Aber anders lässt es sich nicht sagen. Es ist uns, der Jury, nicht leichtgefallen. Das hatte erwartungsgemäß mit literarischen Kriterien zu tun, aber auch mit den Eigenheiten dieses Jahres, kurzfristig erlassenen Reisebeschränkungen und Quarantänepflichten, technischen Schwierigkeiten. Ich bin mir sicher, keine Wortlaut-Jury vor uns hat so viel Zeit damit verbracht, eine Möglichkeit zu finden, einander zu hören.
Wir haben lange diskutiert und wieder von vorn begonnen, waren uns bei manchen Texten überraschend einig und bei anderen nicht. Lesen trägt immer auch den Versuch mit sich, zu verstehen, was einen ergreift und warum. Manchmal verliert man sich voll und ganz in einer Geschichte, manchmal ist es die Sprache oder Form, die einen einnimmt. Bei einer Jurysitzung wird diese Leseerfahrung noch weitergedreht, die Jurorin oder der Juror soll nicht nur verstehen, sondern auch erklären und werten. In der Literatur eine Reihung wie beim Skifahren zu vergeben, kann für alle Beteiligten grausam sein, formale gegen inhaltliche Kriterien abzuwägen, alles zusammen ein Ding der Unmöglichkeit.
Es liegt also in der Natur der Sache, dass uns die Entscheidung schwergefallen ist. Aber ich denke, unsere liebsten Zehn, die in diesem Buch versammelt sind, zeigen sehr gut, was uns fünf wild zusammengewürfelte Leserinnen und Leser auf eine bestimmte Weise ergriffen und begeistert hat.
Das Hören gelang uns nach den Anfangsschwierigkeiten einwandfrei, dass wir einander dabei auch alle sehen, gaben wir an irgendeinem Punkt auf. Nach unserer Jurysitzung, Stunden zwischen Wien, Berlin und Winterthur, schmerzten meine Ohren von den Kopfhörern. Ich klappte den Laptop zu und griff nach einem Buch, das auf meinem Schreibtisch lag. Alles muss seinen Himmel haben von Joseph Joubert, ein Autor, der sein Leben lang nur Notizen verfasste und den ich jeder und jedem ans Herz legen möchte. Planlos schlug ich das Buch auf und landete bei einem Eintrag aus dem Jahr 1816: Die Verrückten und selbst die zornigen Verrückten urteilen sehr gut .
In diesem Sinne, frohes Lesen.
Anna Weidenholzer
* 1984 in Linz, lebt in Wien. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft in Wien und Polen. Ist die beste Wortlaut-Wiederholungsschreiberin: 2003, 2008 und 2009 war sie unter den besten zehn Texten. Danach hat sie erfolgreich Bücher geschrieben: Der Sammelband Der Platz des Hundes (2010) sowie die Romane Der Winter tut den Fischen gut (2012), Weshalb die Herren Seesterne tragen (2016) oder Finde einem Schwan ein Boot (2019). Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien. Anna Weidenholzer wurde mehrfach ausgezeichnet oder auch nominiert – etwa für den Leipziger Buchpreis (2013) oder Longlist für den Deutschen Buchpreis (2016).
Im September 2020 ist sie auf Einladung des Verbands Autorinnen und Autoren der Schweiz (AdS) in der Villa Sträuli in Winterthur zu Gast.
Foto: Miriam Kreiseder
Matthias Gruber
hat Theaterwissenschaft studiert, als man in der Uni noch rauchen durfte und macht seitdem immer irgendwas mit Medien. Vieles hat er dann auch wieder gelassen, aber das Schreiben ist ihm geblieben. Aktuell verbringt er seine Nachmittage auf Kinderspielplätzen und seine Abende mit der Arbeit am ersten Roman.
Ich stehe in der Küche und lege Münzen auf die Tischplatte. Zweihundert Ein-Euro-Stücke und eine rote aus Plastik mit dem Logo einer Supermarktkette. Als ich fertig bin, rufe ich nach Emma.
„Ich hätte gedacht, dass das mehr sind”, sagt sie beim Eintreten und nimmt einen Schluck aus ihrer Teetasse.
„Trotzdem unrealistisch, dass du die rote erwischt, wenn du einfach so hingreifst”, sage ich.
„Und die willst du jetzt so dem Arzt geben oder was?”
„Dann fahren wir eben vorher noch mal bei der Bank vorbei.”
Ich beginne, die Münzen zurück in den Stoffbeutel zu schieben, in dem normalerweise die Scrabble-Buchstaben liegen.
„Willst du ziehen?”, sage ich und schüttle. Im Beutel beginnt es zu klimpern.
„Lass das. Das bringt Unglück.”
Emma liegt mit ausgestreckten Beinen auf dem Behandlungstisch und hat das T-Shirt über den Bauch hochgerollt. Ich sitze daneben und drücke ihre Hand. Sie drückt zurück, aber nicht ganz so fest. Das Ultraschallgerät zerlegt Emmas Gebärmutter in schwarze und weiße Punkte und setzt sie am Monitor wieder zusammen.
„Ich seh da nichts”, sagt sie und lässt ihren Kopf nach hinten sinken.
Doktor Gruber dreht an einem der Knöpfe und wir hören den Herzschlag. Es klingt, als ließe jemand eine Springschnur über dem Kopf kreisen. Ich drücke Emmas Hand fester. Doktor Gruber dreht sich auf seinem Hocker nach einem Papierhandtuch um und reicht es ihr.
„Sie können sich wieder anziehen.”
Wir sitzen am Schreibtisch und Doktor Gruber tippt auf seiner Tastatur herum. Sein behaarter Unterarm hinterlässt auf der Glasplatte einen feuchten Abdruck. Als er fertig ist, dreht er den Bildschirm in unsere Richtung. Für den Computer ist Emmas Schwangerschaft eine Serie an Wahrscheinlichkeiten. Doktor Gruber überprüft eine Zahl nach der anderen. Die meisten nickt er wortlos ab. Andere kommentiert er beiläufig. „Herzschlag sieht gut aus. Hirnstamm unauffällig”, und so weiter.
„Unauffällig ist gut, oder?”, fragt Emma.
„Sie müssen sich das so vorstellen”, sagt Doktor Gruber und wechselt in den Modus für patientengerechte Sprache. „Der Fötus schwebt in der Fruchtblase wie ein Astronaut in einer Raumkapsel. Wir bekommen Hinweise, aber was da drin wirklich vor sich geht, wissen wir nicht.”
Emma nickt und ich denke, dass es am Ultraschall wirklich so ausgesehen hat, als würde das alles irgendwo im Weltraum passieren und nicht drei Zentimeter tief in ihrem Bauch.
Doktor Gruber macht in der Zwischenzeit mit den Zahlen weiter. Er dreht den Bildschirm noch ein Stück weiter in unsere Richtung, stützt sich am Glastisch ab und tippt mit dem Kugelschreiber auf das Display. „Das ist nicht das, was wir haben wollen.”
„Eigentlich blöd”, sagt Emma und rückt auf die Eckbank des Kaffeehauses.
„Was?”
„Na, ein Schreibtisch aus Glas. Da sieht ja jeder, was drunter ist.”
Ich denke nach, aber bevor mir ein guter Grund einfällt, müssen wir bestellen. Emma möchte Malakofftorte.
„Hab ich nicht mehr. Bienenstich oder Apfelstrudel“, sagt die Kellnerin knapp.
„Topfenstrudel?”, fragt Emma. Ich weiß, dass sie das absichtlich tut. Wenn man ihr Druck macht, stellt sie auf stur.
Die Kellnerin klopft mit dem Stift ungeduldig auf ihren Block. „Bienenstich oder Apfelstrudel”, wiederholt sie, diesmal ohne Fragezeichen.
„Es sind nur Wahrscheinlichkeiten. Das muss erst einmal gar nichts heißen”, sage ich.
„Eh. Aber es kann.” Emma sticht mit der Gabel ein Stück vom Strudel und balanciert es vor ihrem Gesicht. „Das Ganze nervt mich jetzt schon. Vor zwei Monaten wollten wir nicht mal Kinder und jetzt können wir übers Abtreiben nachdenken”, sagt sie und schiebt den Strudel in den Mund. Am Nebentisch bestellt eine Pensionistin viel zu laut Eier im Glas.
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