Eva Horster öffnete die Tür weit und rief: »Urban … endlich!«
Aber es war nicht Urban Horster, der eintrat, sondern Herr Thomas, der Empfangschef.
Ihr Lächeln erlosch, und noch bevor er den Mund öffnete, wußte sie, daß etwas Schlimmes geschehen sein mußte.
»Sie?« stieß sie fassunglos hervor.
Das Gesicht des Empfangschefs war beherrscht und ausdruckslos wie immer.
»Ich weiß, Sie erwarten Ihren Gatten, gnädige Frau«, sagte er und schloß die Tür geräuschlos hinter sich.
»Aber …«
»Bitte, setzen Sie sich!«
»Aber … warum …?«
»Bitte«, sagte er mit Nachdruck, faßte sie am Arm und führte sie zu einem der Sessel am Kamin.
Er blieb vor ihr stehen und blickte auf sie herab. Nichts in seinem Gesicht verriet, was er in diesem Augenblick empfand – Bewunderung für ihre Schönheit, tiefes Mitleid für ihr Schicksal und ohnmächtigen Zorn darüber, daß gerade ihm die Rolle des Unglücksboten zugefallen war.
»Gnädige Frau …« sagte er mühsam.
»Was ist geschehen?« rief sie mit einer Stimme, die ihr nicht mehr ganz gehorchte.
»Bitte«, sagte er beschwörend, »bitte, seien Sie tapfer. Ihr Gatte hatte einen Unfall.«
Da sie nicht ahnte, daß er im Auto unterwegs gewesen war, löste diese Mitteilung seltsame Assoziationen in ihr aus.
»Im Hotel?« fragte sie. »Er schickt sie zu mir?«
»Nein«, erklärte Herr Thomas, der alles noch viel schwieriger fand, als er es sich vorgestellt hatte, »ein Autounfall …«
»Aber … ich verstehe nicht …« stammelte sie.
Dann erst begriff sie, fuhr hoch.
»Er ist – tot?«
»Nein, er lebt. Er ist schwer verletzt, aber er lebt.«
Mit den seltsam gleitenden Schritten einer Nachtwandlerin ging sie zur Tür.
»Ich muß zu ihm«, murmelte sie wie zu sich selber. »Ich muß zu ihm …«
Mit zwei Sätzen war er hinter ihr her und hielt sie fest.
»Gnädige Frau, bitte, lassen Sie sich doch erst erklären …«
Sie fuhr herum. Ihre klaren grauen Augen in dem totenblassen Gesicht waren überraschend wach.
»Haben Sie mich belogen?«
»Nein.«
»Dann bringen Sie mich zu ihm. Sofort.«
Er hielt ihrem Arm so fest, als befürchtete er, sie könnte sich losreißen und in die Nacht hinausstürmen.
»Er ist ohne Bewußtsein«, sagte er, »eine schwere Schädelfraktur. Er würde Sie gar nicht erkennen.«
Sie sah ihn an, mit verdunkelten Augen, in denen er nicht zu lesen vermochte.
»Wo liegt er?«
»In Oberkirch. Auf der Unfallstation des dortigen Krankenhauses. Von dort hat man im Hotel angerufen.«
»Wir müssen sofort einen Hirnspezialisten hinzuziehen«, sagte sie, »Professor Meyer von der Neurochirurgischen Klinik Freiburg. Stellen Sie, bitte, die Verbindung her. Ich gehe inzwischen hinauf und ziehe mich um.«
»Jetzt?« sagte er. »Es geht auf zwölf Uhr zu, der Professor wird –«
»Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe«, schnitt sie ihm das Wort ab, »es geht um das Leben meines Mannes.«
Sie schüttelte seine Hand ab und ging auf die breite, geschwungene Treppe zu. Sie war die ersten Stufen schon hinaufgeeilt, als sie sich noch einmal umdrehte.
»Professor Ferdinand Meyer«, sagte sie, »M, e, y, e, r … Meyer!«
In dieser Sekunde begriff er, welch unerschütterliche Kraft in dem zarten Körper dieser jungen Frau steckte.
Es war nicht einfach, den Professor zu erreichen, und er hatte es noch nicht geschafft, als Eva die Treppe wieder herunterkam, in flachen Schuhen, einem graublauen Tweedkostüm, einen Schal in der Hand – nur die funkelnden Ohrgehänge erinnerten noch daran, wie anders sie sich diesen Abend vorgestellt hatte. Ihr schmales Gesicht war immer noch schneeweiß, aber ihre Züge verrieten Beherrschung und äußerste Anspannung.
Sie stand neben Herrn Thomas und wartete, bis es so weit war, dann nahm sie ihm den Hörer aus der Hand und meldete sich.
»Hier spricht Frau Horster, Herr Professor«, sagte sie mit klarer Stimme, »Frau Eva Horster vom Grandhotel Horster in Baden-Baden. Mein Mann hatte einen schweren Autounfall … Schädelfraktur. Bitte, setzen Sie sich mit der Unfallstation des Krankenhauses in Oberkirch in Verbindung, dort ist er eingeliefert worden. Ich möchte, daß Sie sich um ihn kümmern und die Operation persönlich vornehmen … ich weiß, daß dieser Wunsch Ihnen unverschämt verkommen muß, Herr Professor, aber es geht um meinen Mann, den Vater von drei Kindern … ich weiß, welche Strapazen und Unannehmlichkeiten ich Ihnen damit zumute … das glaube ich Ihnen ja, aber ich möchte, daß mein Mann von dem besten Arzt auf diesem Gebiet operiert wird, und das sind Sie, Herr Professor. Bitte, fahren Sie noch heute, fahren Sie jetzt gleich nach Oberkirch! Selbstverständlich bezahle ich den Chauffeur … selbstverständlich werden alle Ihre Honorarforderungen erfüllt … es geht um das Leben meines Mannes, Herr Professor, Geld spielt da überhaupt keine Rolle … ich danke Ihnen, Herr Professor, ich danke Ihnen!«
Eva legte auf. Ihre Augen hatten einen sonderbaren Glanz. Mit einer mechanischen Bewegung schlang sie den Schal um ihr rotblondes Haar.
»Bitte, rufen Sie das Hotel an, Herr Thomas«, sagte sie, »sorgen Sie dafür, daß ein Zimmermädchen oder irgendeine andere weibliche Kraft sofort herüberkommt und bei den Kindern bleibt … dann holen Sie Ihren Wagen. Ich will bei meinem Mann sein.«
Während der Fahrt nach Oberkirch schwiegen beide.
Eva saß sehr aufrecht, fast starr. Sie hielt den Blick unverwandt geradeaus gerichtet, die Hände im Schoß verkrampft. Ihre Fingernägel bohrten sich in die Handflächen, aber sie spürte den Schmerz kaum. In ihrer Kehle war ein heißes, würgendes Brennen, und das Herz lag wie ein schwerer Bleiklumpen in ihrer Brust, der ihr das Atmen zur Qual machte.
Sie bemühte sich krampfhaft, alle Gedanken auszuschalten, alle Gefühle zu ersticken, denn sie spürte instinktiv, daß sie zusammenbrechen würde, sobald sie erst das Ausmaß dessen, was geschehen war und was noch drohend vor ihr stand, erkennen würde.
Herr Thomas respektierte ihr Schweigen. Er warf nur hin und wieder einen scheuen Seitenblick auf ihr angespanntes blasses Profil.
Er verfluchte sich, daß er sich ihrer plötzlichen Autorität gebeugt hatte, statt das einzig Richtige zu tun, einen Arzt zu rufen, der ihr eine Beruhigungsspritze gegeben und Sie ins Bett gesteckt hätte. Statt dessen hatte er sich zu dieser unsinnigen Fahrt durch die Nacht zwingen lassen, mit der dem verunglückten Chef in keiner Weise geholfen war.
Ein Unfallwagen überholte sie mit Blaulicht und heulender Sirene, bog nach links ab.
Herr Thomas zuckte zusammen, aber Eva reagierte überhaupt nicht. Sie schien weit, weit fort zu sein.
Er folgte dem Unfallwagen. Die Scheinwerfer erfaßten das blau-weiße Schild mit der Aufschrift: »Ruhe! Hospital!« Dann tauchte das Krankenhaus zu ihrer Rechten auf, ein weißes Gebäude mit einer breiten Einfahrt.
Herr Thomas parkte den Wagen im Inneren des Hofes, stieg aus und wollte Eva helfen. Aber sie kam ihm zuvor und ging mit steifen hölzernen Schritten auf die erleuchtete Pforte der Unfallstation zu.
Er lief ihr nach, holte sie ein.
In der Anmeldung hatten die Sanitäter zwei Tragen mit blutigen stöhnenden Bündeln abgestellt, die sicher noch vor kurzer Zeit selbstbewußte, gesunde Menschen gewesen waren.
Eva schenkte ihnen keinen Blick. Wie eine aufgezogene Puppe ging sie auf die diensthabende Schwester zu. Aber als sie ihre Frage stellen wollte, versagte ihre Stimme. Sie brachte nicht mehr hervor als einen rasselnden Atemzug.
Herr Thomas sagte rasch: »Herr Urban Horster aus Baden-Baden … er muß vor einer Stunde eingeliefert worden sein. Autounfall.«
Die Schwester warf einen Blick auf ihre Liste.
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