Lona Simon war noch nicht da, er hatte es nicht anders erwartet; sie pflegte sich stets sehr gern, sehr lange und ausgiebig mit ihrer äußeren Erscheinung zu beschäftigen.
Er bestellte sich einen Cognac, trank ihn rasch, dann noch einen. Seine innere Spannung ließ nach, seine Selbstvorwürfe verloren an Schärfe.
In dem großen gemütlichen Raum mit den Butzenscheiben und den weiß gescheuerten Tischen hatten sich viele Männer zum Dämmerschoppen zusammengefunden, vorwiegend Straßburger. Ihr ein wenig rauhes Französisch erfüllte dies niedrige, langgestreckte Zimmer. Die Luft war blau von Tabakschwaden.
Dann kam Lona Simon.
Er hatte gar nicht zur Tür geschaut, sondern wurde erst durch die jähe Stille aufmerksam, die ihr Auftreten hervorrief. Es war, als ob jeder einzelne dieser sehr bürgerlichen Männer bei ihrem Anblick den Atem anhielt.
Sie war schön.
Ein fliederfarbenes Leinenkleid brachte ihre glatte bräunliche Haut und ihre prachtvolle Figur zur Geltung und kontrastierte wundervoll zu ihrem schwarzen Haar. Die schmale Taille wurde durch den breiten Gürtel noch betont, der tiefe Ausschnitt gab den Ansatz ihres festen Busens frei, der weite Rock schwang um ihre Knie.
Sie trat an Urban Horsters Tisch, als sei sie sich des Aufsehens, das sie erregt hatte, gar nicht bewußt, warf ihren Mantel, den sie über dem Arm getragen hatte, auf einen Stuhl, stellte die große Pappschachtel dazu und lächelte ihn an.
»Jetzt hab’ ich aber Hunger!«
Er vergaß, daß er sofort hatte zurückfahren wollen, vergaß alles außer Lona, diesem attraktiven Mädchen, um dessen Freundschaft ihn alle, das fühlte er deutlich, beneideten.
»Such dir was aus«, sagte er und reichte ihr die Speisekarte.
»Und du?« fragte sie, nachdem sie die Karte gründlich studiert hatte.
»Höchstens eine Kleinigkeit«, erwiderte er und schob den Gedanken an die Vorbereitungen, die Eva für diesen Abend getroffen hatte, mit Gewalt beiseite.
»Es gibt frische Krebse«, verkündete Lona und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
Sie aßen Champignonsalat mit Trüffeln, kleine rote Krebse, zum Abschluß ein Straßburger Soufflé, und sie tranken dazu den rotigen würzigen Wein der Landschaft.
Lona Simon war strahlender Laune, wie Frauen ihrer Art es zu sein pflegen, wenn sie ein neues Kleid tragen und fühlen, daß es ihnen gut steht.
Urban Horster ließ sich nur zu gern von ihrer Fröhlichkeit anstecken. Er war sich in jedem Augenblick bewußt, daß Eva zu Hause auf ihn wartete. Aber er fühlte sich wohl. Cognac und Wein hatten die Spannung in seiner Brust gelöst. Er fand dieses unbeschwerte Beisammensein mit Lona in der gemütlichen alten Weinstube wie eine Galgenfrist, die ihm das Schicksal selber geschenkt hatte. Er brauchte nicht zu denken, er brauchte sich nicht zu entscheiden, nichts wurde von ihm verlangt, als Lonas munterer Stimme zu lauschen, in ihre dunkel glänzenden Augen zu schauen.
Als er sich endlich aufraffte, um zu zahlen, war es zehn Uhr vorbei.
Den Karton mit Lonas Kleidern unter dem Arm, trat er wenig später auf die Straße. Die frische, kühle Vorfrühlingsluft wirkte wie eine Ernüchterung. Schlagartig kam ihm die Tragweite der Situation zu Bewußtsein. Ohne auf Lona zu warten, die sich noch ihren Mantel zuknöpfte, eilte er zum Parkplatz.
»Warte doch! Halt!« rief sie hinter ihm her.
Aber er hörte gar nicht auf sie. Sie trippelte hinter ihm her, ihre hohen Absätze klapperten auf dem Pflaster. Als sie ihn erreichte, hatte er sein Coupé schon aufgeschlossen, das Paket auf den Hintersitz geworfen, den Wagen aus der Parklücke heraus und auf die Fahrbahn gesteuert.
Er stieß von innen die rechte Tür auf, und sie stieg ein.
»Mein Gott«, sagte sie, »ich bin doch kein Rennpferd!«
Sie zog ihren Mantel aus und warf ihn über das Paket.
Er brummte etwas Unverständliches.
»Warum hast du es bloß mit einem Mal so eilig?« fragte sie schmollend.
Er schwieg und starrte verbissen geradeaus.
»Na schön«, sagte sie und zog fröstelnd ihren Schal um den Hals. »Keine Antwort ist auch ein Antwort!«
Während sie in der Weinstube gesessen hatten, war unversehens die Frühlingsnacht hereingebrochen. Urban Horster hatte die Scheinwerfer eingeschaltet, das Auto glitt, nachdem sie die erleuchteten Straßen der Innenstadt hinter sich gelassen hatten, mit leise brummendem Motor durch die Dunkelheit.
Sie passierten die Zollstation Kehl ohne Zwischenfall und erreichten die Bundesstraße 3. Urban Horster gab Gas. Die Tachometernadel stieg zitternd höher und höher. Der Sportwagen flog nur so dahin.
Lona Simon liebte den Rausch der Geschwindigkeit, aber diesmal fühlte sie sich unsicher.
»Du fährst wie ein Verrückter!« sagte sie halb bewundernd, halb mahnend. »Sei vorsichtig!«
Kurz vor der Abzweigung nach Oberkirch kam eine gefährliche S-Kurve. Lona hatte schon den Mund geöffnet, um ihn zu warnen – aber nach einem Blick auf sein blasses, verbissenes Gesicht zog sie es vor zu schweigen.
Urban Horster steuerte mit Vollgas in die Kurve.
»Obacht!« schrie Lona unbeherrscht.
Ein böses Lächeln verzerrte seinen Mund – da, plötzlich spürte er, wie ihm das Steuerrad entglitt, wie er die Gewalt über den Wagen verlor. Mit aller Kraft versuchte er gegenzusteuern – aber da war es schon zu spät.
Das Auto wurde mit ungeheurer Wucht in die Finsternis hinausgeschleudert.
Lona Simon hatte das Gefühl, aus einem abgrundtiefen tintenschwarzen See langsam, ganz langsam wieder an die Oberfläche zu tauchen. Sie spürte, irgendwo war ein Licht.
Sie riß krampfhaft die Augen auf und sah, daß das Licht, das sie genarrt hatte, der linke Scheinwerfer des Autos war, der eine endlose Bahn frisch gepflügten Ackers beleuchtete.
Plötzlich war alles wieder da, ihr Bewußtsein und gleichzeitig die Erinnerung an das, was geschehen war – die rasende Fahrt, der Sturz in die Finsternis. Sie erinnerte sich, daß sie unwillkürlich die Füße fest gegen die Vorderwand gestemmt, ihr Gesicht mit dem rechten Arm geschützt hatte. Mit heißer Freude wurde sie sich bewußt, daß sie davongekommen war.
Sie tat einen tiefen, zitternden Atemzug. »Mein Gott«, sagte sie, »oh, mein Gott!«
Sie wandte sich zur Seite, um Urban Horsters Blick zu suchen. Aber er war vornüber gesunken, den Kopf auf dem Lenkrad, sein rechter Arm hing unnatürlich verkrümmt herab. Sie griff ihm in das dichte dunkle Haar, versuchte ihn aufzurichten – mit einem Schrei des Entsetzens ließ sie ihn wieder los. Sein Gesicht war unkenntlich, eine blutende Maske des Schreckens.
Ihre Hand war warm und klebrig, und es dauerte eine Sekunde, bis sie begriff, daß sie blutig war. Sie zerrte das verklemmte Handschuhfach auf, zog ein Papiertuch heraus, rieb sich die Hand wie unter einem hysterischen Zwang sauber. In ihrem Kopf wirbelte es. Ihre Zähne klapperten.
Endlich hatte sie sich so weit gefaßt, daß sie das Nächstliegende tun konnte. Mit Überwindung griff sie unter dem Lenkrad hindurch, drehte den Zündschlüssel um, stellte den Motor ab. Der Scheinwerfer erlosch.
Sie rüttelte an der Tür, die nicht nachgeben wollte. Kalter Schweiß trat ihr aus allen Poren. Schließlich sah sie ein, daß es unmöglich war, kletterte über die Sessellehne und versuchte es hinten.
Sie hatte Glück. Die rückwärtige Tür war weniger verklemmt, sie ließ sich öffnen.
Lona Simon stand schon im Freien, als ihr der Karton mit den Kleidern einfiel, die sie in Straßburg gekauft hatte. Noch einmal tastete sie sich in den Wagen hinein, fand, was sie suchte. Mit einem Schwung warf sie die Tür ins Schloß. Jetzt erst spürte sie, daß auch ihr Arm verletzt sein müßte, denn er tat abscheulich weh.
Aber sie achtete nicht darauf, sondern begann über den Acker zur Straße hinauf zu stapfen. Ihre hohen Absätze versanken bei jedem Schritt in dem weichen Boden. Sie bückte sich, zog die Pumps aus, nahm sie in die Hand und lief auf Strümpfen weiter. Oben angekommen, schlüpfte sie wieder hinein und marschierte die Straße entlang. Sie warf keinen einzigen Blick auf die Unfallstelle zurück.
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