»Du Biest!«
Er preßte ihre Handgelenke, so daß sie zusammenzuckte, aber das herausfordernde Lächeln schwand nicht von ihrem Gesicht.
»Traust du es mir etwa nicht zu?«
Er haßte sie in diesem Augenblick, haßte sie von ganzem Herzen. Aber die Vorstellung, daß ein anderer Mann ihren geschmeidigen Körper genießen sollte, machte ihn rasend. Er riß sie in seine Arme und küßte sie leidenschaftlich!«
»Wir fahren«, flüsterte sie mit glänzenden Augen, als er sie endlich freigab, »nicht wahr … wir fahren!«
Als Urban Horster zehn Minuten später sein Büro verließ und in die Hotelhalle trat, hatte er eine Sekunde lang das irritierende Gefühl, daß alle Blicke sich auf ihn richteten. Er mußte an sich halten, um nicht an seiner Krawatte zu zupfen oder sich über das Haar zu streichen.
Nur mit Aufbietung aller Willenskraft gelang es ihm, Gelassenheit vorzutäuschen. Er wußte ja, daß seine Erscheinung in Ordnung war, er hatte sich selber vor dem Spiegel überzeugt. Niemand konnte ahnen, was in seinem Büro vor sich gegangen war, und doch – sah ihn der Empfangschef, Herr Thomas, nicht mit einem sonderbaren Ausdruck an? Und lag in den blauen Augen der Empfangssekretärin Hilde Protius nicht unverhohlene Neugier?
Nur mit Mühe zauberte er das gewohnheitsmäßige Lächeln auf sein Gesicht.
Es war Ende März, die Saison hatte noch nicht begonnen. In der weiten, sehr luxuriös mit echten Teppichen und kostbaren antiken Möbeln eingerichteten Halle des Grandhotel Horster herrschte gedämpfte Ruhe. Nur zwei ältere Ehepaare, ein emeritierter Professor und eine Gruppe Amerikaner saßen in den tiefen Ledersesseln und genossen den Ausblick auf die Parkanlagen der Lichtentaler Allee, deren mächtige alte Kastanien gerade die ersten dicken klebrig-grünen Knospen zeigten, und auf die blauen Berge des Schwarzwalds jenseits der Kurstadt, plauderten halblaut miteinander, blätterten in Zeitschriften, tranken Mokka.
Der Hotelier trat an den Empfangstisch, wechselte ein paar Worte mit Herrn Thomas, vergewisserte sich, daß alle Vorbereitungen für den Empfang einer Gruppe belgischer Touristen getroffen waren, die am späten Nachmittag erwartet wurde.
Wie die meisten Hotels war auch das Horster , besonders in der stillen Zeit, darauf angewiesen, Reisegesellschaften aufzunehmen, und wie die meisten Hoteliers haßte Urban Horster diese Gäste, die wie die Heuschrecken für eine Nacht einfielen, um meist schon in der Frühe des nächsten Morgens wieder aufzubrechen.
»Wie lange bleiben sie?« fragte er.
»Sie haben für drei Tage gebucht«, gab der Empfangschef Auskunft, »mit voller Pension.«
»Na, das ist wenigstens etwas.« Urban Horster seufzte leicht. Der Empfangschef schien die Gedanken des Hoteliers zu erraten.
»Es war seht geschickt, dieses Abkommen mit Round the World zu schließen«, sagte er, »es ist für uns wirklich äußerst günstig.«
»Günstig? Lebensnotwendig!«
Urban Horster nickte seinem Empfangschef zu und begab sich auf einen raschen Rundgang durch die Halle. Er verbeugte sich vor jedem einzelnen der Gäste, fragte nach ihren Wünschen, erkundigte sich, wie sie den Vormittag verbracht hatten und nach ihren weiteren Plänen. Niemals war es ihm so schwergefallen wie heute, Interesse zu heucheln, aber nicht eine Sekunde lang kam ihm der Gedanke, sich vor dieser Pflicht zu drücken. Er war in diesem Hotel aufgewachsen und hatte schon als Junge gelernt, daß die Kunst, den Gästen das Gefühl zu geben, daß der Hotelier persönlich an ihren Freuden, Wünschen und auch Sorgen Anteil nimmt, mindestens so wichtig wie jeder Komfort ist.
Ohne mit der Wimper zu zucken ließ er den Redeschwall einer extravaganten Amerikanerin über sich ergehen, die sich bitter darüber beklagte, daß das Kostüm, das sie sich in einem der besten Modesalons Baden-Badens hatte anfertigen lassen, angeblich nicht saß. Selbst als der emeritierte Professor, ein leidenschaftlicher Botaniker, ihn in ein Gespräch über die Flora des Schwarzwaldes verwickeln wollte, verlor er keinen Augenblick die Geduld. Er sagte: »Ja, Herr Professor!« und »Nein, Herr Professor!« an genau den richtigen Stellen, »Wie interessant!« und »Wirklich bemerkenswert!«
Aber seine Gefühle und Gedanken wurden hin und hergerissen zwischen dem Mädchen, das er eben verlassen hatte, und seiner Frau, die auf ihn wartete.
Wie soll ich es Eva nur klarmachen, daß ich heute abend keine Zeit habe? grübelte er. Wenn ich nur wüßte, wie ich es ihr beibringen kann!
Das Privathaus Urban Horsters stand am anderen Ende des ausgedehnten Parks, der sich hinter dem Grandhotel Horster erstreckte. Noch um die Jahrhundertwende hatten hier Stallungen und Kutscherwohnungen gestanden.
Urban Horsters Vater hatte einen Teil der schon halb verfallenen Gebäude abreißen, den Hauptteil völlig umbauen und nach eigenen Entwürfen renovieren lassen, bis ein einstöckiges, anheimelndes Haus entstanden war, in das er sich mit seiner Frau zurückzog, als er Urban und dessen Frau das Hotel übergab. Den überaus fleißigen, noch gar nicht betagten Eltern Urban Horsters war aber kaum Zeit geblieben, ihren Lebensabend zu genießen; sie waren knapp drei Jahre später rasch hintereinander gestorben.
Urban Horster hatte mit seiner ersten Frau Clara geborene Höchli, der Tochter eines Schweizer Gastronomen, in einem Appartement im Hotel gewohnt. Dort waren auch ihre Tochter und ihr Sohn geboren worden und hatten ihre erste Kindheit verlebt. Als Clara im siebten Ehejahr starb – an einer heimtückischen Krankheit, die sie erst sehr spät erkannt und viel zu spät hatte behandeln lassen, weil sie nie Zeit oder Gedanken an ihre Gesundheit verwandt hatte – war Urban Horster mit seinen Kindern, der damals sechsjährigen Susi und dem drei Jahre alten Teddy, im Hotel wohnen geblieben. Erst als er sich in seine zweite Frau, die junge Jurastudentin Eva, verliebt hatte, war ihm der Gedanke gekommen, in das alte Privathaus überzusiedeln.
Seine junge Frau war froh darüber gewesen. Ihr bedeutete das Hotel nichts, sie war zufrieden, daß sie sich mit den Kindern in das kleine Haus am Ende des Parkes zurückziehen konnte. In den ersten Monaten ihrer Ehe war sie vollauf beschäftigt, hier Gemütlichkeit und Behagen zu schaffen und das Vertrauen ihrer Stiefkinder zu gewinnen. Schon bald zeigte es sich, daß sie selber Mutter werden würde. Etwa ein Jahr nach ihrer Eheschließung brachte sie ihre kleine. Tochter Barbara, genannt Babsy, zur Welt, und von nun an war ihr Leben noch mehr mit Hausfrauensorgen und Mutterpflichten ausgefüllt.
Während ihrer ganzen Ehe war sie kaum ein dutzendmal im Hotel gewesen, und auch dann immer nur aus ganz besonderen Anlässen. Dennoch blieb es nicht aus, daß der Hotelbetrieb sich immer mehr wie eine Macht in ihr Bewußtsein drängte, eine befremdliche, ja, fast feindliche Macht, die ihr die Liebe und die Aufmerksamkeit ihres Mannes zu rauben drohte.
Oft stand sie, wie auch heute, am Fenster ihres Schlafzimmers und sah in den Park hinaus. Sie konnte von hier aus über Büsche und Bäume hinweg die Hinterfront des Grandhotel Horster erblicken, und sie versuchte sich vorzustellen, was ihr Mann in diesem Augenblick tat. Dachte er an sie? Sie zweifelte daran. Sie fühlte nur zu deutlich, daß er ihr in der letzten Zeit mehr und mehr entglitten war.
Eva seufzte schwer, senkte den Blick ihrer hellen grauen Augen auf die riesige Baustelle des Schwimmbeckens, die sich vom Hotel aus tief in die wunderbaren Grünanlagen des Parks hineingefressen hatte. Noch immer konnte sie diesen Anblick nicht ertragen, ohne daß ihr Herz sich schmerzhaft zusammenzog.
Wegen dieses Schwimmbeckens hatte es zwischen ihr und ihrem Mann zum erstenmal eine heftige Auseinandersetzung gegeben. Urban hatte ihr erklärt, daß das Publikum immer anspruchsvoller würde und daß das Hotel ohne eigenes Schwimmbad auf die Dauer nicht konkurrenzfähig bleiben könnte. Obwohl sie seine Argumente begriffen hatte, war ihr der Gedanke, daß der alte Park zerstört werden sollte, so verhaßt gewesen, daß sie sich aufs Bitten und Flehen verlegt hatte.
Читать дальше