Ein Lastwagen kam ihr entgegen. Aber sie machte nicht einmal den Versuch ihn anzuhalten, sondern lief weiter. Sie hatte nur den einen Gedanken – nicht in diesen Unfall verwickelt zu werden. Sie wollte keinen Skandal, sie konnte ihn sich einfach nicht leisten, er hätte das Ende ihrer Karriere als Hotelsekretärin bedeutet. Kein Hotelier hätte sie danach wieder eingestellt, das war ihr ganz klar.
Und außerdem versuchte sie sich einzureden, würde ich auch Urban dadurch schaden. Man liest es doch immer wieder. Wenn eine zweite Person mit im Wagen gesessen hat, erstattet der Staatsanwalt Strafanzeige. Womöglich kommt er dann ins Gefängnis, wenn er noch lebt!
Wenn er noch lebt – erst bei diesem Gedanken fiel ihr ein, daß sie ja gar nicht wußte, ob er tot oder nur schwer verletzt war. Sie hätte sich überzeugen müssen. Aber wie? Seinen Puls fühlen? Vielleicht. Jetzt war es dazu zu spät.
Energisch schüttelte sie die aufsteigenden Gewissensbisse ab und marschierte weiter.
Nach etwa drei Kilometern sah sie in der Ferne am Rande einer Ortschaft eine erleuchtete Tankstelle. Unwillkürlich beschleunigte sie ihre Schritte.
Erst als sie näher kam, sah sie, daß im Büroraum der Tankstelle zwar die Deckenbeleuchtung brannte, der Raum aber leer war. Die Eingangstür war verschlossen. Sie drückte heftig und ausdauernd auf die Klingel. Nach einiger Zeit erschien ein junger Mann und schloß auf.
»Ich brauche ein Auto«, sagte sie grußlos, »bitte, würden Sie die nächste Taxistelle anrufen … ich habe es sehr eilig!«
Sie stellte den Kleiderkarton auf den Boden, kramte in ihrer Handtasche, drückte dem jungen Mann eine Mark in die Hand.
Er betrachtete erst das Geldstück, dann das junge Mädchen.
Sein forschender Blick machte sie unsicher, sie fuhr sich mit der Hand über das Kinn und entdeckte, daß sie blutete.
»Ich habe mich verletzt«, sagte sie.
»Das sieht man.«
»Würden Sie nun, bitte, endlich anrufen?«
Er zuckte die Schultern, ging zum Telefon.
»Kann ich mich inzwischen hier irgendwo frisch machen?« rief sie ihm nach.
Er wies mit dem Kinn auf eine Nebentür, und sie befolgte seinen Wink.
Als sie ihr Gesicht in dem trüben Spiegel über dem Waschbecken sah, erschrak sie vor ihrem eigenen Anblick. Kein Wunder, daß der Tankwart sie so merkwürdig angesehen hatte. Sie sah verheerend aus – ihre dunklen Augen starrten riesengroß und tief verschattet, ihr bräunliches Gesicht, ganz blutleer vor Entsetzen, wirkte gelblich fahl, das schwarze Haar hing wie eine Hexenmähne herab, am Kinn und am Wangenknochen waren blutverschmierte Wunden.
Wie gut, daß Urban mich nicht so gesehen hat, dachte sie und wußte im gleichen Augenblick, wie töricht diese Überlegung war.
Sie wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, säuberte die Wunden und verpflasterte sie, kämmte sich sorgfältig ihr schulterlanges Haar, legte Make-up auf und zog sich die Lippen nach.
Danach sah sie besser aus, aber der verstörte Blick ihrer Augen ließ sich nicht vertuschen.
Als sie den Waschraum verließ, war das Taxi schon gekommen. Der Fahrer lehnte am Kühler und rauchte eine Zigarette, der Tankwart stand daneben. Lona hatte den Eindruck, daß sich die beiden über sie unterhalten hatten.
Sie warf den Kopf in den Nacken und trat auf die beiden Männer zu.
»Bitte, würden Sie mich nach Baden-Baden fahren«, sagte sie.
Der Fahrer blickte sie an.
»Das wird aber ein teurer Spaß, Fräulein.«
»Ich werde Sie im voraus bezahlen.«
»Hin und zurück, denn heute nacht kriege ich keine Fuhre mehr.«
»Wieviel macht das?« fragte sie und öffnete ihre Handtasche.
Der Fahrer nannte den Preis und nahm das Geld entgegen. »Na schön, weil Sie es sind, Fräulein!«
Er öffnete den Wagenschlag, um sie einsteigen zu lassen.
»Einen Augenblick«, sagte sie und warf den Karton auf den Rücksitz, »ich muß schnell noch mal telefonieren …«
Sie wandte sich zu dem beleuchteten Innenraum, rief über die Schulter zurück:
»Ein Ortsgespräch …«
Während sie auf das Telefon zuging, beobachtete sie aus den Augenwinkeln mit Erleichterung, daß der Tankwart keine Anstalten machte, ihr zu folgen, sondern bei dem Taxi stehenblieb. Die beiden Männer unterhielten sich, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen.
Eine Papptafel mit den wichtigsten Nummern hing hinter dem Schreibtisch an der Wand. Sie wählte »Unfall«. Eine mürrische Stimme meldete sich.
»Bei der Kurve vor Oberkirch ist ein schwerer Unfall passiert«, sagte sie hastig, »auf der Bundesstraße drei. Bitte, kommen Sie sofort!«
»Verletzte?« fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung gleichgültig.
»Ja. Ein Schwerverletzter.«
»Von wo aus telefonieren Sie?« fragte der Mann.
Aber da hatte sie schon aufgelegt.
Eva Horster hatte keine böse Vorahnung, sie war nicht einmal beunruhigt.
Sie war es so gewohnt, auf ihren Mann zu warten, es war schon so häufig vorgekommen, daß er sein Versprechen, pünktlich zu sein, nicht gehalten hatte, daß sie gar nicht auf den Gedanken kam, es könnte etwas pasisert sein.
Sie war nur todunglücklich.
Um sieben Uhr hatte sie den Tisch gedeckt, sehr festlich, mit dem schönen alten handgeschmiedeten Familiensilber und hochstieligen hauchdünnen Gläsern. Dann war sie noch einmal nach oben gegangen und hatte Susi und Teddy zur Ruhe gemahnt, die, von ihrer eigenen erwartungsvollen Erregung angesteckt, immer noch auf ihren Betten herumhopsten.
Sie hatte sich umgezogen und die schweren, wundervoll ziselierten goldenen Ohrgehänge angelegt, die ihr Mann ihr zum ersten Hochzeitstag geschenkt hatte. Sie hatte die hellen Augenbrauen dunkel nachgestrichelt, die Wimpern getuscht, dem feinen, ein wenig schmalen Mund mit einem zartrosa Lippenstift Farbe gegeben. Das rotblonde Haar hatte sie leicht toupiert und so lange gebürstet, bis es sich weich um die hohe Stirn und die schmalen Wangen schmiegte.
Ihr Spiegelbild zeigte eine sehr schöne, ein wenig kühle Frau, und sie wünschte in diesem Augenblick sehnlich, daß Urban jetzt, in diesem Augenblick, kommen und sie in die Arme nehmen sollte.
Aber er kam nicht.
Sie ging noch einmal in die Küche, sah nach, ob sie auch nichts vergessen hatte – die Platte mit dem kalten Roastbeef stand bereit, die Schüsselchen mit Remouladensoße, Champignon- und Spargelspitzensalat, das Fruchtgelee und das Käsegebäck. Sie konnte auftragen, sobald Urban nach Hause kam.
Aber er kam immer noch nicht.
Sie zündete das Buchenholz im Kamin an. Jetzt gab es nichts mehr für sie zu tun. Sie wartete drei endlose Stunden lang. Sie versuchte zu lesen, aber es gelang ihr nicht, ihre Gedanken zu konzentrieren. Dann legte sie eine Mozartplatte auf, aber selbst diese himmlisch heitere Musik konnte sie heute nicht trösten. Sie stellte den Apparat wieder ab. Sie rauchte, stand auf, ging hin und her, setzte sich wieder, starrte in die Flammen.
Mehr als einmal zuckte es in ihrer Hand, den Telefonhörer zu ergreifen und das Hotel anzurufen. Aber sie unterließ es. Urban Horster hatte sich schon zu Anfang ihrer Ehe energisch verbeten, durch einen Anruf bei der Arbeit gestört zu werden.
»Wenn ich nicht komme«, hatte er gesagt, »bedeutet das, daß ich beschäftigt bin. Mit einem Anruf verschwendest du deine und meine Zeit. Es dauert dann um so länger, bis ich mich freimachen kann.«
Sie dachte sich zornige Worte aus, die sie ihm sagen wollte, aber dann ließ sie es wieder. Sie verbot sich Tränen, Klagen, Vorwürfe. Das alles Würde ihn nur abstoßen.
»Ich werde ihn mit einem Lächeln empfangen«, sagte sie sich immer wieder, mit einem Lächeln …«
Und sie zauberte ein Lächeln auf ihr erschöpftes Gesicht, als kurz nach elf die Haustürklingel ertönte. Sie erhob sich, leerte den Aschenbecher in das Kaminfeuer und ging zur Tür. Ihr Herz klopfte, und sie spürte, wie ihre Wangen sich röteten. Sie war ganz sicher, daß es nur Urban sein konnte, der seinen Türschlüssel im Hotel hatte liegen lassen – sie erwartete keinen Besuch, und es gab niemanden, der sie zu dieser nächtlichen Stunde ohne Anmeldung überfallen hätte.
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