„Ich bin ein philosophischer Kopf — besonders wenn es mir schief geht! Ich grüble die ganze Zeit darüber nach: darf der Mensch seinem Dasein ein Ende machen, weil er zu glücklich ist? . . . glücklich wider sich selbst und darum vor Reue der unglücklichste Mensch unter der Sonne? Eine Doktorfrage . . . nicht? Ich wollte sie neulich praktisch lösen. Ich habe noch allerhand Giftpfeile und ähnliches Zeug von meinen Expeditionen hier an der Wand. Sie sind vermuffelt wie alles um mich. Aber trotzdem: ein Ritz an meiner Pulsader . . . Bester! wo sind alle Zweifel . . .?
„Lieber Freund . . . ich schreibe Dir . . . also lebe ich noch . . . werde leben . . . werde so alt werden wie der selige Methusalem . . . mit meiner zähen Konstitution . . . ich kann nicht hinüber in das fremde Land — ich kann ebensowenig zu Dir hinüber in Dein Land. Ich liebe sie zu sehr . . .
„Rache, Du alter Esel . . . Rache der Natur: Ich habe mein besseres Teil verkauft! Nicht um ein Linsengericht, nein, um die Liebe . . . Ich bin zwiespältig geworden von Kopf bis zu Fuss. Ein Doppelwesen. Der Mensch von heute frisst in mir den von gestern auf. Und dieser letztere war doch ich! Sein Widersacher aber geht herum und ist guter Dinge und tut, als wäre er ich selber. Was soll nun mit mir geschehen? Soll ich als meine eigene Verleugnung hier vor den Philistern paradieren? Mit offenen Augen! Ich muss wohl so elendiglich versumpfen. Ich kann den Zerstörungsprozess an mir so gut sich langsam entwickeln sehen, wie ich als Arzt früher eine Krankheit erkannte. Eine entsetzliche Perspektive! . . . Ich habe ja freilich Den kleinen schwarzen Giftpfeil an der Wand . . . Sollte es einmal geschehen, dann weisst Du, warum es geschehen ist! . . . dann wäre das die erste Stunde gewesen, wo ich mich mehr geliebt hab’ als sie — und die Stunde wird nie kommen . . .“
Gabriele Lünhardt sass, die Hände im Schoss, mit halboffenem Mund. Lange konnte sie gar nichts denken. Es war ihr, als sei das Haus eingestürzt und der Himmel dazu. Irgend etwas war geschehen, was alles bisher Gewesene aufhob. Es war unmöglich, sich da zurechtzufinden. Nur der eine Gedanke hämmerte sich immer tiefer in ihr Hirn: ,Er war so unglücklich neben dir, dass er sein Leben an deiner Seite verflucht hat! . . . Er war so unglücklich neben dir, dass er verzweifelt weg wollte, in die weite Welt hinaus! . . . Er war so unglücklich neben dir, dass ihm das Nichtsein besser dünkte als das Sein! . . . Wie hast du ihn trotzdem glücklich machen können, blind wie ihr gegeneinander wart? Die ihn glücklich machte, warst nicht du!‘
Dann war ihre Ehe ja ein einziges, furchtbares Missverständnis gewesen. Draussen im Vorsaal klangen Schritte. Die junge Witwe fuhr auf. Sie hatte eine Todesangst, dass jetzt jemand kommen könne, um sie mit irgendeiner alltäglichen Frage zu stören. Hastig, wie in der Furcht, auf einem Verbrechen ertappt zu werden, verschloss sie die Briefe. Die durfte niemand sehen. Dann stand sie auf und überlegte: Was nun? . . . Nichts! Der diese Zeilen geschrieben, war ja lange tot. Alles war zu Ende. Nichts rief die Vergangenheit zurück . . .
Nur jetzt keine Menschen! Es war die Zeit ihres gewohnten einsamen Spaziergangs. Sie kleidete sich selber an. Sie eilte durch den Tiergarten dahin, als sei ihr ein Feind auf den Fersen. Dann machte sie halt, in einem jähen Schrecken: was war das nur? Es kam über Nacht. Es warf alles über den Haufen. Wieder frug sie sich: ,Wenn diese Briefe ihn widerspiegeln, was war ich ihm dann? . . .‘ Und dachte sich im Weitergehen: ,Er sagt in diesen Beichten doch immer nur, dass ich schön sei! Das weiss ich. Das haben mir schon viele gesagt. Wenn er nicht mehr in mir gesehen hat . . . nicht gewusst hat, wie viel mehr ich bin . . .‘
Bei dieser Vorstellung rückte das Bild ihres Mannes von ihr hinweg, in die Ferne. In die feine, durchsonnte, silbern-klare Herbstluft hinaus, die ihre weissen Fäden um Baum und Strauch spann. Es war, als ob seine Züge sich leise, langsam veränderten — verschwammen. Sie erschrak von neuem. Das durfte sie doch nicht verlieren! Das war ja ihr Halt im Leben. Aber so rasch sie auch ging — es wich von ihr zurück. Es liess sich nicht mehr fassen, mit aller ihrer Liebe und mit allem Zorn.
Schlechtes Gewissen? In ihrem Leben hatte sie es nicht gekannt. Sie war mit sich ausserordentlich zufrieden gewesen und hatte es von den anderen als etwas Selbstverständliches verlangt, dass sie es auch seien. Nun war da ein Stocken des Herzschlags: ,So rächt es sich, wenn man seinen Nächsten sich zum Gleichnis macht‘ . . . Sie wollte es sich nicht eingestehen, aber sie musste es: ,Ich hab’ in ihm mich selbst geliebt! . . . Er sollte so sein, wie er mich ergänzte! . . . Mit dem Besten und Schwächsten in ihm, seiner Liebe zu mir, habe ich ihn dazu gezwungen. Und gerade dadurch blieb ich ihm fremd . . .‘
Während sie unit gesenktem Kopfe des Weges schritt, gestand sie sich: ,Und er mir fremd! Auch in ihm war mehr! Ich hab’ es nicht entdeckt. Ich war viel zu sehr mit mir selber beschäftigt. Ich hab’ es nicht gesehen, dass ein Mensch neben mir, an mir zugrunde ging — ein Mensch, den ich doch liebte wie keinen anderen auf der Welt . .
,. . . Und der mich noch viel mehr liebgehabt hat. Denn ich hätte das Opfer meiner ganzen Persönlichkeit nicht bringen können, wie er es tat . . . Und dies Opfer war umsonst! Für ihn und für mich.‘
Das wurde in ihr zu einer mitleidlosen Klarheit. Gabriele Lünhardt wusste auf einmal mit verzweifeltem Bangen: ,Vor drei Jahren habe ich meinen Mann begraben! — Verloren hab’ ich ihn heute! . . .‘
Erschüttert und erschöpft kam sie nach Hause. Da war alles wie sonst. Die beiden Damen ausgegangen. Niemand zu sehen. Die Stille war ihr unerträglich. Es bebte in ihr. Was sollte nun werden? Es konnte doch nicht so weitergehen. Sie konnte nicht schweigend diesen tödlichen Schlag tragen und lächeln und nach aussen tun, als sei nichts geschehen! Sie musste sich dagegen wehren! Es gab nur einen Menschen, an den sie sich zu klammern vermochte. In der Halle lag noch die Visitenkarte des Freiherrn von Ostönne — zuoberst in der silbernen Schale. Seine Berliner Adresse stand darauf. Die junge Witwe warf blindlings, mit zitternder Hand ein paar Zeilen auf einen Bogen.
„Ich habe die Briefe erhalten. Ich muss Sie durchaus noch einmal sprechen. Sofort. Ich werde zu Hause bleiben und Sie empfangen, wann Sie auch kommen!
Gabriele Lünhardt.“
Als sie den Diener mit dem Schreiben weggeschickt hatte, wurde es ihr in Erwartung eines kommenden Kampfes freier ums Herz. Es war ihr, als stritten sie beide um die Leiche ihres Mannes, seine Frau und sein Freund. Aber er sollte den Sieg nicht haben! Noch nie war sie einem Menschen unterlegen. Erregt schritt sie in ihrem Zimmer auf und nieder. Sie konnte nirgends ruhig bleiben. Sie suchte etwas und sagte sich mit zuckenden Lippen: ,Ich suche meinen Mann und finde ihn nicht. Nach seinem Tod war er hier überall. Jetzt, wo er noch einmal aus dem Leben zu mir sprach, ging er aus dem Hause.‘
Sie setzte sich unruhig an ihren Flügel, ihre Zuflucht in aller Not. Das war, wie wenn andere beteten. Sie hielt die Augen halb geschlossen. Sie wusste kaum, was das für Töne waren, die ihren schmalen, weissen Fingern entquollen. Es war dasselbe wie gestern — das Klagende, das Rätselhafte: Was weckst du der Wala Schlaf? . . .
Tief unter der Erde wohnen die Nornen — liegen die Toten — ist die Ruhe . . . Wehe, wenn die Abgründe sprechen — die letzten Geheimnisse sich enthüllen . . . es klang ihr düster in die Ohren, wie von einer fremden, fernen Stimme, voll Verzweiflung über das eigene Wissen und Weh. Gnade dem, dem zu viel Erkenntnis ward unter der Sonne . . .
Sie liess die Hände von den Tasten sinken. Die Saiten seufzten und verklangen. Ihr Blick fiel durch die offene Türe auf die Photographie ihres Mannes an der Wand gegenüber. Auf einmal verstand sie diesen Zug um die Lippen — dies sonderbare, stille, ironische Lächeln. Der machte sich nicht über die anderen lustig, der spottete seiner selbst: ,Schwachheit, dein Name ist Mann!‘ und schwieg . . . schwieg im Leben und im Tod . . . bis auf die heutige Stunde.
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