Sie stand auf und schichtete mit bebenden Fingern die vergilbten Blätter zu einem losen Stoss aufeinander. Im Kamin drüben flackerte das Feuer. Hinein damit, mit diesen Zeichen der Vergangenheit. Sie sollten nicht aufstehen, nachträglich, und wider das Glück zeugen, das sie doch besessen, das sie doch gegeben hatte, dessen Abglanz jetzt noch über ihrem Haupte leuchtete. Aber auf halbem Wege blieb sie stehen. Sie fühlte: Wenn sie auch diese Briefe — die schon gelesenen und die paar letzten, noch nicht gelesenen — den Flammen preisgab — sie wirkten doch fort! Sie liessen sich nicht mehr aus der Welt schaffen. Der Zweifel an allem blieb, wuchs gerade, wenn seine Unterlage zerstört war.
So kehrte sie um und setzte sich wieder. Ja — das waren die kleinen, kritzeligen Schriftzüge ihres Mannes. Er hatte eine Gelehrtenhand. Er war solch eine echte deutsche Mischung von Denker, Abenteurer und altem Korpsburschen gewesen — ein Mann, der beim Abhäuten eines Löwen über den Buddhismus plaudern konnte und dabei tiefe Züge aus der Flasche mit Tropenbier tat . . . sie hatte das alles an ihm gekannt — ihn ganz zu verstehen geglaubt, auch da, wohin sie ihm nicht folgen konnte. Und er? . . . Wieder frug sie sich in ihrer Verstörung: ,Wenn er das nicht auch tat, wie ich — das an mir ehrte, was er nicht begriff — was hat er dann an mir geliebt? . . .ʻ
Es waren nur noch zwei Briefe da, die sie nicht kannte. Sie nahm in einem jähen Entschluss den oberen zur Hand. Sie las:
„Werner!
„Ich sollte Dir nicht schreiben! . . . Ich bin ein Gram vor Deinen Augen. Beruhige Dich: vor meinen noch viel mehr! . . . Dies Gefühl allgemeiner Elendigkeit wächst unaufhaltsam in mir. Seit meinem letzten Brief ist es riesengross geworden — steigt mir nächstens über den Kopf. So sende ich diese Zeilen ins Leere. Drüben überm Meer finden sie den einzigen Menschen, der mich versteht . . .
„Werner . . . nun weiss ich, was heue ist, in all meiner Liebe. Wehe den heillosen Leuten, die sich selber einsperren und dann den Schlüssel zum Fenster hinauswerfen. So einer bin ich! Hinterher rüttelt er an den Stäben . . . geschehen ist geschehen . . .
„Und die Freiheit so nahe . . . so verflucht nahe . . . man setzt sich aufs Schiff . . . man fährt durch unsern guten Suezkanal, den wir schon so oft sachte entlanggegondelt sind — im Roten Meer beginnt schon die andere Welt — die Fische fliegen — das Wasser über den Korallenklippen ist smaragdgrün . . . ist milchweiss und purpurrot — ich hab’ mich immer gewundert, wo unser Herrgott all die Farben für seine Palette in diesem Erdenwinkel hernimmt — und drüben leuchtet der Schnee des Sinai . . . und dann die langen Wellen des Indischen Ozeans . . . die ersten Kokospalmen über der Brandung . . . Es ist ja wirklich nur ein Katzensprung zu Euch hinüber . . .
„Ich will Dir verraten: Ich war letzte Woche entschlossen, diesen Sprung zu machen. Mein Koffer war gepackt. Passage belegt. Alles zur Flucht bereit. Ich wollte heimlich fort. Weg wie ein Dieb aus meinem Glück, von meiner geliebten Frau. Sie durfte natürlich nichts ahnen. Ich hab’ mich mit blutendem Herzen verstellt, die ganze Zeit. Sie merkte auch nichts. Ich glaube, sie merkt nie etwas, was in mir vorgeht. Ihr gibt unsere Ehe keine Probleme auf! Für sie bin ich ein humoristischer Mensch der besseren Stände, der sie liebt — der immer guter Laune ist, wenn er sie sieht, und rasend stolz darauf, sich an ihrer Seite zeigen zu dürfen. Voilà tout! Alles in schönster Ordnung! . . . Die grosse Sehnsucht . . . die kennt sie nicht . . . wenn sie auch mit Vorliebe sehnsüchtige Lieder singt . . .
„Ich aber hatte mir gesagt: Jetzt oder nie! Man muss sich losreissen! Es liegt im Menschen auch ein Wille zum Leiden, — eine Naturnotwendigkeit, ohne die man sich nicht ganz zu sich selbst entwickelt . . . ach . . . lieber Werner . . . dies letzte Beisammensein des Abends, vor Tisch! Ich hatte sie schon lange nicht so vergnügt gesehen . . . sie ging auf und ab, in ihrer langen Schleppe, mit blossen Schultern, Diamanten im Haar . . . sie war schön . . . schön . . . Und kramte geschäftig mit ihren Noten. Wir erwarteten Gäste — irgendein ganz besonderes Tier aus Bayreuth oder Buxtehude . . . ausser ihm nur noch drei, vier Auserwählte . . . aus dem ganz engsten Sang- und Klimperkreis. Und plötzlich kommt die Nachricht: ,Der grosse Mann hat Schnupfen! Kommt heute nicht! Vielleicht — übermorgen!ʻ . . . Telephon, Rohrpost, Diener nach allen Richtungen, um auch die anderen abzubestellen! Meine Frau und ich waren den Abend allein. Um zehn sah ich auf die Uhr. Da ging mein Zug. Da wusst’ ich: Das war die entscheidende Stunde meines Lebens. Die letzte. Sie kommt nicht wieder. Ich habe nicht mehr die Kraft dazu. Das Schicksal ist stärker. Es drückt mich hier platt auf den Boden. Hier bleib’ ich! Und habe meine letzte Selbstachtung verloren! Und verzehre mich an ihr. Sie trinkt mir das Blut aus dem Herzen und ahnt es nicht . . . weiss der Himmel, was schliesslich aus mir wird . . .“
Es klopfte. Der Diener meldete, dass das zweite Frühstück angerichtet sei. Die junge Witwe erhob sich und ging hinüber zu ihrer Mutter und Schwester, die schon am Tisch sassen. Es war ihr äusserlich nichts anzumerken. Sie war nur sehr still. Die beiden anderen Damen achteten nicht darauf. Sie redeten eifrig miteinander über den grossen Kolonialbasar, der in nächster Zeit in Berlin stattfinden sollte. Es war da unter anderen eine Bude geplant, in der Gisela und ihre Freundinnen allerhand Kuriositäten aus dem dunklen Erdteil, Waffen, Schmuck, Fetische verkaufen würden. Auch ihre Schwester hatte versprochen, sich zu beteiligen. Sie wollte ja jetzt wieder unter Menschen. Dies Fest war für sie, die Witwe eines Afrikareisenden, die beste Gelegenheit. Da wirkte sie in seinem Sinn, obwohl es ihr an sich völlig gleich war, ob drüben im Innern der Kolonie irgendwo ein Erholungsheim für Europäer gegründet wurde oder nicht. Sie fuhr zusammen, als Fräulein Weiferling zu ihr sagte: „Du . . . Gabriele . . . in nächster Zeit müssen wir mal anfangen, das Zeug drüben aus Pauls Zimmer, was du zum Basar stiften willst, von der Wand zu nehmen und zu putzen. Es ist alles grässlich verstaubt und vermottet!“
Das waren die afrikanischen Trophäen des verstorbenen Hausherrn. Die junge Witwe schwieg. Ihre Mutter versetzte: „Ich würde an deiner Stelle das Zimmer intakt lassen! Ich finde es ein wenig pietätlos, so mit den Erinnerungen an deinen Mann aufzuräumen. Das sind doch schliesslich die Sinnzeichen seines Lebens!“ . . .
Gabriele hob nervös den Kopf.
„Seines Lebens vor mir! An diesen Dingen habe ich nie teil gehabt!“ . . .
So sprach sie. Aber in ihr zitterte — zum erstenmal — ein Schrecken: ,ich hab’ daran so wenig teil gehabt, wie er an meinem Dasein! Aber was war denn dann eigentlich für ein Bund zwischen uns?ʻ
Die Kommerzienrätin meinte, gutmütig einlenkend — sie war dick und behaglich und liebte keinen Streit: „Nun ja . . . dann mach in Gottes Namen mit dem Krimskrams, was du willst!“
Zugleich sprang Gabriele Lünhardt plötzlich, von einer inneren Angst getrieben, auf, noch ehe der Nachtisch aufgetragen war. Sie nahm sich kaum die Zeit, den anderen flüchtig zuzunicken, und eilte wieder hinüber in ihr Zimmer. Dort griff sie hastig nach dem letzten der Briefe. Sie überflog ihn. Sie las bebend, mitten aus dem Zusammenhang heraus:
„Weisst Du denn überhaupt, Werner, was Weltschmerz ist? Grimmiger, bis auf die Knochen gehender Weltschmerz? Und so des Lebens letzte Weisheit? Sein Schluss? Sein Trugschluss? Nein — keinen blassen Schimmer hast Du davon, mein Gutester! Du bist in solchen Sachen ein ungebildeter Bursche! Mehr fürs Teeblätter zupfen und faule Nigger fuchteln. Ich aber bin eigentlich ein reich angelegter Kerl — zu weit auslaufend — zu tausenderlei zu gebrauchen — und soll immer nur ihr Mann sein . . . immer nur ihr Mann . . .
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