»Bloße Geräuschkulisse, das hast du mal gesagt. Weißt du noch? Du hast gesagt, Musik sei nichts als Geräusche.«
Sie setzte sich und hörte eine Weile zu. Dann senkte Thorne seine Stimme und sagte: »Versuchen Sie gerade, mich zu verführen, Mrs Robinson?«
Tanner starrte ihn fragend an. »Mrs Wer ?«
Lachend winkte Thorne ab. »Egal.«
»Und, was hast du jetzt in der Goodwin-Sache vor? Wie willst du diesen Jennings aufspüren?«
»Wie kommst du darauf, dass ich etwas vorhabe? Ich meine, die Sache ist erledigt, oder?«
»Ja, das sollte sie sein«, sagte Tanner. »Aber ich kenne dich schon eine Weile.«
»Hm, was würdest du denn tun?« Thorne setzte sich aufrecht hin. »Schon klar, dass du nichts tun würdest, aber … rein hypothetisch.«
»Warum sprichst du nicht mit den Kollegen vom Betrugsdezernat? Findest raus, was sie vorhaben, und siehst zu, dass du ihnen irgendwie zuvorkommen kannst.«
»Klar, ein Kinderspiel.«
»Oder du lässt sie einfach ihre Arbeit machen. Lehnst dich zurück und wartest, dass sie ihn schnappen. Wie auch immer, ich hab ihnen alles an Informationen geschickt, was wir haben.«
»Verdammt, muss bei dir eigentlich immer alles so übermäßig korrekt laufen?«
»Ich geb mir Mühe.« Tanners Stimme klang mit einem Mal ein wenig angespannt.
»Es wäre nett gewesen, wenn du mir Bescheid gegeben hättest, mehr will ich damit gar nicht sagen.«
»Russell hat mir praktisch keine Wahl gelassen. Außerdem ist es richtig so.«
»Ja, wenn Aufgeben richtig ist.«
»Hör dich mal reden, Tom.«
Tanners Gesichtsausdruck beendete die Diskussion. Thorne schloss für mehrere Sekunden die Augen und lehnte sich zurück. »Das lass ich lieber bleiben«, sagte er. »Manchmal gehe ich mir ziemlich auf die Nerven.«
Der jammernde Sänger musste etwas Instrumentalem weichen – leicht und latinomäßig –, und dem ersten Bier folgten weitere, die ihrem Austausch über den neuesten Klatsch aus dem Einsatzraum Schwung gaben: eine Kollegin, deren Freund gerade mit Tatortfotos auf dem Laptop erwischt worden war, ein Beamter der Spurensicherung, der dank zweifelhafter Garnelen am Vorabend einen Tatort »ruiniert« hatte, ein männlicher Detective, der neuerdings als weiblicher Detective angesprochen werden wollte. Als Thorne verkündete, es sei Zeit zum Aufbruch, deutete Tanner auf die leeren Bierdosen auf dem Couchtisch.
»Nur wenn du mit der U-Bahn gekommen bist.«
»Komm schon, Nic …«
»Willst du rausgewinkt werden und deinen Job verlieren?«
»Wieso, verpfeifst du mich?«
Tanner atmete langsam und kontrolliert aus. »Das Gästebett ist gemacht.«
»Vorausschauend«, stellte Thorne fest.
»Es ist immer gemacht.«
Thorne seufzte und erhob sich langsam. »Ich hoffe, es gibt ein anständiges Frühstück.«
»Ich kann dir einen Toast machen.«
Er trottete in den Flur und stieg die Treppe hinauf. Plötzlich fühlte er sich hundemüde. Auf dem Absatz drehte er sich um und sah Tanner, die unten bereits die Haustür abschloss.
»Was hättest du gemacht, wenn ich in mein Auto gestiegen wäre? Hättest du irgendwas gemacht?«
Sie schaute zu ihm hoch. »Ich hätte … überlegen müssen.«
Thorne lehnte sich gegen das Geländer. Und dachte: Vor sieben Monaten hast du nicht lange überlegt. In der leer stehenden Wohnung, den Schürhaken in der Hand …
»Hast du noch mal drüber nachgedacht? Das Haus zu verkaufen?«
»Ja«, sagte Tanner. »Aber ich denke, ich bleibe erst mal hier.«
Thorne nickte. »Was immer dich glücklich macht.« Dank einer Lebensversicherung hatte Tanner nach Susans Tod die Hypothek ablösen können, sodass ihr das zweistöckige Haus in Hammersmith nun komplett gehörte. Allerdings war es zu groß für sie. Fühlte sich zu groß an. Vor sieben Monaten hatte sie umziehen wollen und sich nach einer passenden Wohnung umgeschaut.
Bis sie die falsche betreten hatte.
Bis das Leben – der Tod – dazwischengekommen war.
Thorne sagte Gute Nacht und öffnete die Tür zum Gästezimmer. Vor dem Bett lag ein Handtuch, von dem ihn nun die Katze anstarrte, reglos und offenbar nicht bereit, ihren Platz zu räumen.
»Mach bloß keinen Ärger«, sagte Thorne.
Margate
»Wie bitte …?«
Sie hat den Eindruck, dass die ohnehin schon näselnde Stimme des Jungen inzwischen eine Oktave höher klingt.
»Ich hab gefragt, ob du Lust auf einen Spaziergang hast?«
Michelle tritt einen Schritt zurück, um einer kleinen Gruppe, die gerade aus der Bar kommt, Platz zu machen. Dann tritt sie wieder auf den Jungen zu. Er wird nicht Nein sagen, da ist sie ganz sicher, trotzdem nervt es, dass er sie warten lässt.
»Verdammt«, sagt er.
»Was?«
»Ich meine –«
»Ist doch keine große Sache.«
»Nein.« Er will den Rest seiner Zigarette in den Rinnstein schnippen, verfehlt sein Ziel aber. »Natürlich nicht.«
»Und auch kein Weltuntergang, wenn du keine Lust hast.«
Sie kann schon sehen, dass es für ihn durchaus eine große Sache ist. Sie fragt sich, wie vielen Männern – egal welchen Alters – sie ein Angebot machen müsste, bevor einer ablehnen würde. Einer ganzen Menge, da ist sie sicher, und nicht zum ersten Mal fragt sie sich, warum Männer so … armselig sind.
»Ich sollte meinen Kumpels Bescheid sagen.«
» Ernsthaft ?«
»Na ja, muss auch nicht sein.« Nochmals nimmt der Junge einen schnellen Schluck von seinem Alkopop. »Ist wahrscheinlich nicht so wichtig.«
Vielleicht ist armselig ein etwas zu drastischer Begriff, denkt sie. In Wahrheit glaubt sie nicht, dass Frauen notwendigerweise wählerischer sind als Männer, sondern dass sie nur gern so tun, als ob. Es ist einfach so, dass eine Frau, die dringend Sex haben will, praktisch nur jemanden fragen muss. Okay, vielleicht wägt sie die zur Verfügung stehenden Optionen etwas gründlicher ab als ein Mann in einer vergleichbaren Situation, aber letztlich muss sie bloß zugreifen. Männer wirken dagegen … wahlloser, weil sie sich stärker bemühen müssen und an Zurückweisungen gewöhnt sind. Also lehnen sie ein Angebot, das ihnen irgendwie in den Schoß fällt, selten ab.
Der Lauf der Dinge, oder?
So wie ein Hund alles frisst, was man ihm vorsetzt, weil es die letzte Mahlzeit sein könnte, die er bekommt.
»Was glauben Sie, wie lange wir unterwegs sind?«
Natürlich ist ihr klar, dass sie immer noch abhauen kann. Sich eine andere Bar suchen und einfach ein, zwei Gläser trinken. Ihr Plan ist gut, das weiß sie, er funktioniert, vielleicht reicht es also schon, bis hierhin gekommen zu sein.
»Also …«, sagt sie.
Sie weiß, dass es manchen Leuten reicht, so nahe ranzukommen und zu wissen, dass sie es hätten tun können, wenn sie gewollt hätten.
Ihr hingegen reicht es nicht. Nicht jetzt.
Michelle sagt: »Schauen wir einfach, wie es läuft, okay?«
Sarah zieht die kleine Metallkiste hervor, die hinter Farbeimern und verstaubten Flaschen mit Abfluss- und Fensterreiniger verborgen ist. Sie nimmt einen der fertig gerollten Joints heraus, lässt sich auf einen schäbigen Deckchair fallen und zündet sich die Tüte an. Der Heizlüfter ist noch nicht richtig in Gang gekommen, sodass sie in der Garage ziemlich friert, aber zum Rauchen muss sie hierherkommen.
Sie will den Geruch nicht im Haus haben.
Sie will nicht, dass die Frau, die den Hund ausführt, oder der Fensterputzer oder sonst irgendjemand etwas riecht und das Jugendamt anruft. Natürlich hätten sie damit recht, und sie würde wahrscheinlich dasselbe tun. Ein nach Gras stinkendes Haus ist definitiv nicht der richtige Ort für eine alleinstehende Mutter und ihren Sechsjährigen. Aber ein offizieller Besuch würde ohnehin nicht gut für sie ausgehen.
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