Ihre Freizeit verbringen die beiden fortan lieber auf einem kleinen Paddelboot, das Marielie kaufen kann, weil sie in den 1950er Jahren regelmäßig nach Westberlin geht, um dort schwarz als Krankengymnastin zu arbeiten und ein paar Westmark zu verdienen. Die beiden lieben sich und ihre Augen strahlen auch heute noch, wenn sie sich an die Stunden auf dem kleinen Boot erinnern, an die Paddeltouren auf der Dahme im Südosten Berlins. Gerd Seilkopf schildert jene Wochen und Monate als glückliche Tage. »Es war eine lebenswerte Zeit«, sagt er. Am 23. April 1957 heiraten die beiden, im Jahr darauf bekommen sie eine Wohnung im Stadtteil Prenzlauer Berg zugewiesen. Diese Wohnung gilt als schwer vermietbar, denn in ihr wohnte zuvor ein Paar, das in den Westen geflohen ist, und nach einer solchen Flucht ist den Wohnungsverwaltungen des Arbeiter-und-Bauern-Staates damals nicht klar, wer denn nun für die anfallende Renovierung zuständig ist. Gerd renoviert die Räume selbst und schafft für seine junge Familie ein erstes gemeinsames Zuhause. Das brauchen sie auch, denn im März 1959 bringt Marie-Elisabeth ihren ersten Sohn zur Welt. Sie geben ihm den Namen Sven.
Die glücklichen Berliner Tage vergehen Ende der 1950er Jahre. Gerd Seilkopfs vom Staat vorgegebenes Betätigungsfeld liegt im Nordwesten Berlins, in der brandenburgischen Kleinstadt Kremmen. Dort soll er in der Staatspraxis als Landtierarzt arbeiten, ihm wird in den Ställen der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) seine berufliche Perspektive vorgezeichnet. Ein Leben in Kremmen kann Marielie sich nicht vorstellen, Gerd glaubt auch heute noch: Einen Umzug in die Provinz, nach Kremmen, hätte die Ehe gewiss nicht überstanden. Gerd weiß auch, als Landtierarzt im Staatsdienst sei er nicht umhingekommen, der SED beizutreten. Immerhin bekommt er als Landtierarzt einen Dienstwagen, einen blauen Trabant, zugewiesen, so kann er regelmäßig nach Berlin zu seiner Familie pendeln.
In Kremmen gibt es nach der Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft eine LPG mit einem großen Rinderbestand. Die Bauern der LPG erfüllen alle Planvorgaben, sie bauen Ställe für hunderte Rinder und setzen alles so um, wie es ihnen staatlich verordnet wird. Abweichungen werden nicht geduldet. Aber die Planung für die Rinderhaltung weist erhebliche Mängel auf, für den großen Tierbestand ist nicht ausreichend Futter vorhanden, die Erhöhung der Futterproduktion wird schlichtweg vergessen oder zumindest vernachlässigt. Im Februar und im März 1961 verenden die Rinder in Kremmen reihenweise. Eine katastrophale Situation, die Gerd Seilkopf so beschreibt: »Die Abdeckereien haben es nicht mehr geschafft, die Kadaver zu verbrennen, man hat schon angefangen, Gruben auszuheben, um die toten Rinder zu verscharren.« Was tun? Die Planvorschriften sind bindend, niemand traut sich, die Fehlentwicklung zu benennen, es sei furchtbar gewesen, die Tiere verenden entkräftet. Der Vorsitzende der LPG wird für die Verluste verantwortlich gemacht und verhaftet. Für Gerd Seilkopf ist klar: Früher oder später wird man auch ihn zur Verantwortung ziehen, als Tierarzt ist er schließlich für diese LPG und die Tiere verantwortlich, auch wenn er angesichts der Fehlplanung nichts ausrichten kann. Täglich rechnet er mit seiner Verhaftung, die Wochen vergehen, nichts passiert. Der junge Tierarzt bleibt erst einmal unbehelligt. Die Seilkopfs erinnern sich an das Frühjahr 1961 als eine Zeit voller Angst. Marielie wird das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. In jenen Tagen ist sie zum zweiten Mal schwanger.
Die Gerüchte über eine bevorstehende Schließung der Grenze wollen damals nicht verstummen. So recht können die beiden sich aber nicht vorstellen, dass es so weit kommen kann. Bis zum 13. August 1961: Um 8 Uhr morgens tritt Gerd Seilkopf auf die Straße, er verlässt die Wohnung mit dem zweijährigen Sven auf den Schultern, um zum Milchgeschäft zu gehen. Am Laden angelangt wundert er sich, dass die Kunden vor dem Geschäft stehen und ziemlich aufgeregt diskutieren. »Was macht ihr denn so ein Gesicht bei so einem schönen Wetter«, witzelt er noch. Die Entgegnung kann überraschender nicht sein: Ob er denn noch nicht mitbekommen hätte, dass Westberlin abgeriegelt worden sei? Er denkt bei sich, dass die doch wohl spinnen würden, aber die Menschen vor dem Geschäft versichern ihm, dass in den Stunden zuvor Stacheldrahtrollen gelegt worden seien.
Zu Hause angelangt, fragt Marielie den entsetzt dreinblickenden Gerd, was denn los sei. Er fordert sie auf, das Radio anzumachen, »die haben Westberlin dichtgemacht«. In Marie-Elisabeth steigt die Angst auf, sie erfasst die Situation sofort. Ihnen wird der mögliche Fluchtweg versperrt. Nur wenige Tage zuvor hat der »Genosse« Tierarzt von einem Kollegen eine Warnung erhalten: die Ermittlungen in Kremmen wären fast am Ende, warum er überhaupt noch da wäre. Nach wie vor suche man für die Verluste in der LPG Schuldige. Über eine Flucht in den Westen haben Gerd und Marielie längst nachgedacht, beim Kaffee an diesem Augustmorgen brauchen die beiden nicht mehr viel sagen. Es ist klar, wenn sie gehen wollen, dann sofort.
Ein glücklicher Umstand aus Gerds Studentenzeiten kommt ihnen nun zugute. Er hat zu dieser Zeit eine Weile in der Nähe des Treptower Parks gewohnt und weiß daher, dass das Haus Mengerzeile 14 genau auf der Sektorengrenze steht. Die eine Seite des Gebäudes steht in Westberlin, die andere im Osten, zu beiden Seiten gibt es Eingänge. Er weiß: Das ist ihre einzige Möglichkeit zur Flucht nach Westberlin, in letzter Minute. Er bindet sich eine Krawatte um und versteckt darin die Negative der vorsorglich abfotografierten Approbations- und Promotionsurkunden, denn um nicht aufzufallen, will er keine Dokumente mitnehmen. Ihm wird in diesem Moment auch klar, dass er die Wohnung am Prenzlauer Berg nie wieder betreten wird. Er nimmt einen Blumenstrauß mit, zusammen fahren er, die schwangere Marielie und der zweijährige Sven im Tierarzt-Trabbi nach Berlin-Treptow. Den patrouillierenden DDR-Sicherheitskräften sagen sie, dass sie zum Geburtstag eingeladen worden seien, dafür hätten sie extra die Blumen mitgebracht, sie werden nicht aufgehalten, alles geht glatt.
Im Treppenhaus in der Mengerzeile angelangt, steigen sie hinauf bis auf den Dachboden, von dort aus kommen sie unentdeckt in den Westteil des Hauses. Im Hausflur warten sie in einer Nische, bis ein Bewohner die Haustür aufschließt. Das dauert nicht lange. Sie verlassen das Haus westwärts, sie haben es nie wieder betreten, bis heute nicht. Auf den letzten Drücker sind sie ohne große Hindernisse in die Freiheit gelangt, aber Freude über die geglückte Flucht will nicht aufkommen. Marielie und Gerd haben ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil sie ihre Familien und Freunde zurückgelassen haben. Sie wissen auch, dass es lange dauern wird, bis sie sie wiedersehen dürfen. Das ist ein hoher Preis, doch Marielie sagt, ihr Mann habe damals jederzeit verhaftet werden können, »ich wollte keinen Mann im Gefängnis!« In der ersten Nacht in Westberlin kommen die Seilkopfs 1961 bei Bekannten unter, bereits am Morgen des 14. August ist Gerd schon so weit, wieder in den Osten zurückkehren zu wollen. Er muss um ein Taschentuch bitten. Schlagartig wird ihm bewusst, dass ihm außer seiner schwangeren Frau, seinem Sohn und den Kleidern auf dem Leib nichts geblieben ist. Für Marie-Elisabeth steht aber fest, dass es kein Zurück mehr geben wird.
Die folgenden Wochen sind ein Geduldsspiel, das Flüchtlingslager in Berlin-Marienfelde ist überfüllt, Marielie und der kleine Sven kommen zunächst bei einer Tante unter, Gerd findet eine Schlafmöglichkeit bei einem entfernten Verwandten der Familie ganz in der Nähe des Auffanglagers. So kann er damals täglich die vielen Formalitäten im Aufnahmeverfahren in Angriff nehmen, eine zermürbende Zeit, wie er sich erinnert. Zwölf unterschiedliche Stationen habe er zu durchlaufen gehabt, er habe Wochen gebraucht für die notwendigen Stempel in den Papieren, in endlosen Schlangen habe er gestanden, bis schließlich alle Formalitäten erledigt sind und ein Termin für den Flug nach Westdeutschland benannt werden kann. Marielie ist bereits hochschwanger, und es sei nicht mehr klar gewesen, ob sie zu diesem Zeitpunkt noch fliegen dürfe. Auf gar keinen Fall will sie ihr zweites Kind in der geteilten Stadt zur Welt bringen, in dieser angespannten politischen Situation zwischen Ost und West. Sie hat Glück und wird doch noch für flugtauglich erklärt, so dass Marielie, Gerd und Sven Mitte September 1961 nach Frankfurt am Main fliegen. Nervenzerreißende Wochen liegen da hinter ihnen.
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