1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 Die Dena-Familie war eine wohlhabende Familie, die keine Kosten und Mühen scheute, um Margot zu versorgen. Es mangelte ihr an nichts. Das Stadthaus verfügte über einen kleinen Garten, der von hohen Mauern umgeben war. Darüber war ein Sonnensegel gespannt, um sie vor den neugierigen Augen der Nachbarn zu schützen. So kam es, dass Margot Dena ein Schattenleben führte. Ein Leben im Haus und Garten der Familie, ohne dieses je verlassen zu dürfen. Sie wurde streng bewacht, so dass jeder Fluchtversuch, den sie unternahm, ins Leere ging. Irgendwann fand sich das junge Mädchen damit ab und selbst das Vorspielen einer geistig Kranken und von Panikattacken Gezeichneten gelang ihr nach ein paar Jahren mühelos.
Sie war eine Gefangene. Eine Gefangene der Dena-Familie, des Dena-Spiegels, den sie auch nicht mehr nutzen durfte. Eine Gefangene ihrer selbst. So vergingen viele Jahrzehnte, bis Margot älter wurde und ihre Familienmitglieder verstarben oder die Stadt verließen. Das Versorgungssystem, das über Jahrzehnte aufgebaut worden war, funktionierte weiterhin. Margot wurde immer seltsamer und zog sich mehr und mehr zurück. Sie fing an, mit sich selbst zu sprechen, und lehnte Besuche häufig ab. Es schien, als würde sie tatsächlich langsam verrückt werden. Sie wuselte den ganzen Tag durch das Haus und den Garten, wie eine Rastlose. Jedes Zimmer wurde kontrolliert, ab- und wiederaufgeschlossen, bis auf das eine. Das eine Zimmer, in dem der Spiegel stand. Der Dena-Spiegel. Dieses Zimmer hatten Margots Eltern verschließen lassen, und sie hatte es seit ihrer schattenlosen Rückkehr nie wieder betreten dürfen. Doch nun waren ihre Eltern verstorben, das Haus gehörte ihr allein, und es passte niemand mehr darauf auf, ob sie den Spiegel besuchte.
Als Margot realisierte, dass sie niemand mehr hindern würde, den Spiegel zu besuchen, versetzte sie dies in Unruhe. Sie wuselte tagelang vor der Tür auf und ab und überlegte, wie sie in das Zimmer hineingelangen konnte. Den Schlüssel hatte man ihr nicht überlassen, ihre Eltern hatten ihn mit ins Grab genommen oder vernichtet. Wer wusste das schon? In all den Jahren war es Margot ein Rätsel gewesen, dass ihre Eltern den Spiegel nicht zerstört hatten, aber auch bei dieser Entscheidung war sie nicht hinzugezogen worden. Natürlich nicht. Sie war ja nur das Familienmitglied, das seinen Schatten in Eldrid verloren hatte. Ihre Familie hatte ihr keine Chance gelassen, ihn zurückzuholen. Margot wusste nicht, mit wem sie sich beraten hatten und welche Entscheidungen getroffen worden waren. Sie wusste nur eines: Der Spiegel stand hinter dieser Tür, und er war unversehrt.
Eines Tages näherte sich Margot der Tür, mit einem Dietrich bewaffnet. In gebückter Haltung, die grauen Haare wirr ins Gesicht hängend. Sie hatte eine blaue Schürze über ihren mausgrauen Rock und ihre weiße Bluse gebunden, und an den Füßen trug sie abgewetzte Filzpantoffeln. Ihre Haare waren glatt und strähnig und gingen ihr bis zur Schulter. Die fehlende Bewegung hatte ihr im Alter einen runden Rücken verpasst, aber da sie ohnehin kaum Besuch hatte, störte sie das nicht. So stand sie da, hielt das Werkzeug fest umklammert und starrte die Tür an. Es dauerte eine ganze Weile, dann machte sie sich an der Tür zu schaffen. Ihr handwerkliches Geschick und ihre zittrigen Hände erlaubten es ihr nicht, die Tür zu öffnen. Wutentbrannt kroch sie durch die Flure des Hauses und sann nach einem Ausweg. Dieser kam schneller als erwartet. Der Hausmeister, Franz, der regelmäßig nach dem Rechten sah, reparierte gerade ein Fenster, als sie vorbeihuschte.
»Margot, meine Liebe«, rief er freundlich. »Ich habe dich schon gesucht. Geht es dir gut?«
Franz war ein alter Vertrauter der Familie, der nicht in das Geheimnis um den Spiegel eingeweiht war. Margot kannte er schon sein halbes Leben. Sie mochte ihn nicht sonderlich, empfand ihn als neugierig und teilweise sogar als aufdringlich. Dennoch musste sie seine Anwesenheit dulden, weil sie auf seine Dienste angewiesen war.
Misstrauisch spähte sie in das Zimmer. »Was tust du da?«, zischte sie ungehalten.
»Ich repariere ein Fenster. Du weißt doch, wie zugig es in dem Haus im Winter ist. Es wird bald Herbst, und ich kontrolliere die Fenster, damit du nicht frieren musst. Und natürlich wollte ich nach dir sehen. Geht es dir gut? Brauchst du etwas?«
Er sah sie mit seinen dunklen Augen an, die hinter einer Lesebrille auftauchten, die er für die Reparatur aufgesetzt hatte. Franz war ein kleiner untersetzter Mann mit schwarzen kurzen Haaren, die er zu einem Seitenscheitel gekämmt hatte, und grauen Schläfen. Sein rundes Gesicht war von einem ergrauten Vollbart umrahmt, und seine Haut war sonnengebräunt. Er trug eine dunkelblaue Hose und ein Oberhemd in der gleichen Farbe. Eigentlich untypisch für einen Handwerker, wie Margot fand. Seine Erscheinung war stets gepflegt, und sein Aftershave roch sie oft noch tagelang in den Räumen, in denen er sich aufgehalten hatte.
Sie schüttelte unwirsch den Kopf und wandte sich zum Gehen, als sie abrupt innehielt. »Du kannst tatsächlich etwas für mich tun. Komm, komm mit.«
Sie winkte ihm, ihr zu folgen, und ging den Gang hinunter. Das schlurfende Geräusch ihrer Pantoffeln auf dem Holzboden hallte durch das Haus. Als er nicht sofort reagierte, drehte sie sich ungeduldig zu ihm um.
»Franz?« Ihre Stimme war krächzend, als würde sie selten sprechen, obwohl sie den ganzen Tag vor sich hin murmelte.
»Ich komme ja schon«, rief er und musste den genervten Unterton unterdrücken.
Sie führte ihn zu der verschlossenen Tür und deutete darauf.
»Mach auf!«, herrschte sie ihn an.
»Was willst du in diesem Zimmer?«
Statt einer Antwort gab sie ihm mit ihren knochigen Fingern einen unsanften Stoß in die Seite. »Das muss ich dir nicht erklären. Öffne einfach die Tür.«
Unschlüssig starrte Franz abwechselnd Margot und die Tür an. Seit er für die Dena-Familie arbeitete, war diese Tür stets verschlossen gewesen. Die Anweisungen diesbezüglich waren sehr deutlich gewesen: Unter keinen Umständen sollte er die Tür öffnen und dieses Zimmer betreten. Jetzt war niemand mehr von denen hier, die ihm die Anweisung gegeben hatten. Ein Lächeln zuckte über seinen Mund. Wie lange hatte er darauf gewartet?
Margot stieß ihm erneut in die Seite. Also nickte er beschwichtigend.
»Ich hole nur schnell mein Werkzeug.«
Im Nu hatte Franz das Schloss geknackt. Die Tür schwang so plötzlich auf, dass er vor Schreck zusammenzuckte. Knarrend blieb sie abrupt stehen, als gäbe es ein Hindernis, aber es gab keinen Knall, kein Geräusch.
Franz starrte ungläubig auf die Tür und hatte seine Hand schon nach der Klinke ausgestreckt, als Margot knurrte: »Finger weg.«
Er zuckte zurück, als hätte er sich verbrannt. Aus dem Zimmer kam ihnen eine dicke Staubwolke entgegen. Langsam breitete sie sich über dem Boden aus und kroch in den Flur, als wäre es ein dicker Nebel. Ungläubig starrte Franz auf seine Füße, die nun vollständig mit Staub bedeckt waren.
»Was willst du in diesem Zimmer, Margot? Warum war es abgeschlossen? Das habe ich mich die ganzen Jahre gefragt, seitdem ich hier für deine Familie tätig bin.« Er versuchte, der Staubwolke mit ein paar Schritten auszuweichen. »Und offensichtlich hat hier nie jemand geputzt.«
»Das geht dich nichts an«, unterbrach sie seinen Redeschwall.
Er blickte sie forschend an. Ihre hellen grünen Augen blitzten ihn voller Tatendrang an, während das faltige knochige Gesicht unendlich müde und alt aussah.
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