Es war sein Schützling. Sein lang verloren geglaubter Schützling, der durch seinen Spiegel gereist war, so viele Male. Ein Mitglied der Solas-Familie. Seiner Spiegelfamilie. Desmond Solas. Ein großer Mann, schon fortgeschrittenen Alters, immer noch jung wirkend mit breiten Schultern und dunklen lockigen Haaren. Seine fast schwarzen Augen funkelten im Licht des Kraters, der von dem Brummen etlicher Feen erhellt wurde.
»Ja, Bodan. Ich bin es, und ich habe dich endlich gefunden.«
Ein zufriedenes Lächeln huschte über sein Gesicht, während er sich wieder mit aller Kraft gegen den Stein stemmte und diesen langsam aus dem Weg schaffte.
Sie schwiegen lange. Bodan blickte ihn immer wieder an, ungläubig, und fragte sich, ob er träumte. Er war jünger geblieben als Ada, obwohl die beiden fast zeitgleich nach Eldrid gekommen waren. Desmond war kein alter Mann, ergraut, voller Falten und mit gebückter Haltung. Er wirkte eher mittleren Alters, und Bodan fragte sich sofort, wie das möglich war. Wie konnte Desmond so langsam gealtert sein, vor allem im Vergleich zu Ada.
»Was machst du hier, Desmond«, fragte er erneut und unterbrach dabei seinen eigenen Gedankengang.
Desmond lächelte. »Ich habe dich gesucht. Es hat begonnen.«
Er war noch nie ein Mann der großen Worte gewesen. Bodan reichte diese Antwort jedoch nicht. »Was hat begonnen, Desmond, und warum hast du mich gesucht?«
Er antwortete nicht, sondern drückte nur Bodans Arm. »Wir müssen hier weg, und zwar schnell. Du musst erst zu Kräften kommen. Schaffst du das, Bodan? Kannst du noch ein wenig ausruhen, und dann verschwinden wir hier aus dem Höllenkrater?«
Der Spiegelwächter durchforschte das zarte Gesicht des Mannes, das er seit so vielen Jahren kannte. Die hohen Wangenknochen, die schmalen Lippen, die hohe Stirn, die vollen Haare, die ihm fast auf die Schultern fielen. War das vielleicht ein Traum? Ein Wunschtraum? Es würde so gut passen. Bodan war verzweifelt. Da war es logisch, dass er sich Desmond herbeiwünschte. Den Menschen, den er am meisten bewunderte.
Desmond schien seine Gedanken zu erkennen, denn er schüttelte langsam den Kopf. »Ich bin kein Traum, Bodan, und wir müssen hier weg. Wir haben einen langen Weg vor uns. Schaffst du das? Ich brauche dich, und du musst mich begleiten.«
Bodan nickte benommen. »Lass mich noch ein wenig ruhen.« Die Worte verließen nur flüsternd seine Lippen. »Dann gehe ich überall mit dir hin. Hauptsache weg von hier.«
Desmond drückte erneut seinen Arm und führte ihn an den Rand. Dort setzte sich Bodan mit dem Rücken an den Felsen gelehnt und schloss die Augen.
»Er muss sich ausruhen«, hörte er Desmond zu den anderen Städten sagen. »Ich übernehme seine Schicht.«
Und dann war Bodan auch schon in einen tiefen traumlosen Schlaf gefallen.
Fünftes Kapitel
Das Schattendorf
Lando staunte, wie sich Eneas und Ludmilla wortlos verständigten und unsichtbar machten. Sie schienen ihn vollkommen vergessen zu haben.
»Hey«, zischte er. »Ich kann euch nicht sehen, so geht das nicht.«
Da er keine Reaktion bekam, verwandelte er sich in eine schwarze kleine Spinne.
»Wir sehen dich, und das garantiere ich dir, dieses Mal lassen wir dich nicht aus den Augen«, hörte Lando Eneas wispern.
Die kleine Spinne krabbelte los, kam jedoch nicht weit. Als sie das erste ihrer acht Beine an einem der Zelte vorbeischieben wollte, prallte es zurück. Neben sich hörte Lando Ludmilla aufstöhnen, als hätte sie sich gestoßen.
»Was ist denn hier los?«, schimpfte sie und unterdrückte weitere Flüche.
»Das ist ein Schutzzauber«, presste Eneas wütend hervor. Ein unkontrollierter durchsichtiger Funken rieselte zu Boden. »Rückzug«, piepste er. »Rückzug, bevor die Schatten uns entdecken.«
Als sie die Stelle erreicht hatten, an der sie aus dem Becken der Wahrheit herausgefallen waren, machten sich Eneas und Ludmilla wieder sichtbar, und Lando verwandelte sich zurück in seine Formwandlergestalt. »Diese Schatten sind nicht nur lebendig«, polterte er durch zusammengepresste Zähne. »Sie können auch Zauber aussprechen. Ich fasse es nicht.«
Ludmilla fuhr sich über die Stirn. »Es war, als würde ich gegen eine Wand laufen«, murmelte sie.
Keiner von ihnen wagte es, die Stimme zu erheben, aus Angst, gehört zu werden. Die Landschaft lag gespenstisch still da, so dass Ludmilla den Eindruck hatte, jedes noch so kleine Geräusch würde ein imaginäres Echo auslösen. Während sie sich verwirrt umschaute und überlegte, wie sie das Dorf erkunden könnten, meinte sie, eine Bewegung wahrzunehmen. Auf einem der glattpolierten Steine schien sich etwas zu regen. Etwas Kleines, nicht größer als ein Eichhörnchen, mit einem Schweif und … Flügeln? Sie blinzelte, um genauer hinsehen zu können, aber es war nur ein Stein. Sie musste sich geirrt haben. Irritiert ging sie ein paar Schritte auf die Stelle zu, da packte sie Lando am Arm.
»Was machst du?«, zischte er. Sie konnte seine Anspannung spüren.
»Nichts«, antwortete sie schnell. »Ich dachte nur, da wär’ etwas, aber ich hab mich wohl geirrt.«
Ihr entging Landos skeptischer Blick nicht. Außerdem meinte sie, ein leises, kaum hörbares Seufzen in ihrem Kopf zu vernehmen, jedoch hatte sie keine Gelegenheit, Aik zu fragen, ob etwas nicht stimmte, denn Eneas entlud seine Wut und Enttäuschung mit einem Funkenregen.
»Diese verdammten Schatten.«
Lando stürzte auf ihn zu. »Nicht jetzt, Eneas, beherrsche dich.«
Der Unsichtbare atmete tief ein und aus, und die Funken verglühten auf dem Stein. »Vielleicht sollte es nur einer von uns versuchen«, schlug er vor. »Ich werde einen Weg in dieses Dorf finden. Das verspreche ich euch.«
Noch bevor die beiden anderen reagieren konnten, war er auch schon verschwunden. Lando hob resigniert die Schultern.
»Lassen wir ihn es versuchen. Er hat, was unsichtbare Barrieren und Zauber anbelangt, die größten Chancen, sie zu überwinden.«
Ludmilla sah ihn verwundert an. »Nicht du? Du kannst dich doch so winzig machen. Findest du kein Schlupfloch?«
Er lachte leise. Seine tiefe angenehme Stimme hatte ihr gefehlt. Sie hatte eine beruhigende Wirkung auf sie.
»Ein Schutzzauber lässt keine Schlupflöcher zu«, gab er zu bedenken. »Ich kann mich noch so klein machen oder noch so schnell sein. Wenn ich nicht erwünscht bin, dann muss ich draußen bleiben.«
»Und wie soll es Eneas dann schaffen?«
»Unsichtbare haben eine andere Materie. Sie können mit einem solchen Zauber verschmelzen.«
»Kann ich das dann auch?« Ludmilla sprang voller Tatendrang auf. Lando packte sie am Handgelenk.
»Ludmilla, du bist ein Mensch. Du magst dich unsichtbar machen können, aber du hast deshalb nicht die gleiche Materie wie ein Unsichtbarer.«
»Also können wir nur abwarten? Mal wieder.« Schnaufend ließ sie sich auf einen der glatten Steine fallen.
»Sicherlich ist er gleich zurück«, mutmaßte Lando.
Sie starrte vor sich hin, als sie die Bewegung erneut wahrnahm. Dieses Mal ein Stückchen näher. Da war etwas.
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