Lando bemerkte ihre Anspannung und sah sie fragend an, während sie angestrengt auf dieselbe Stelle starrte. »Was ist los?«
Sie deutete darauf und legte einen Finger auf die Lippen.
Nun konnte sie es ganz genau erkennen. Es war ein Wesen. Schwarz wie die Nacht. Schuppige Haut, vier Beine, kleine Flügel und einen Schwanz. Es kroch blitzschnell über den Boden. Hatte sie da mehrere Köpfe gesehen?
Lando reckte sich. »Da ist nichts, Ludmilla. Was ist in dich gefahren? Bist du übermüdet? Du brauchst wahrscheinlich etwas Schlaf.«
Sie schüttelte energisch den Kopf. Wie in Zeitlupe erhob sie sich und ging ganz langsam auf das Wesen zu. Der Formwandler wollte sie zurückhalten und griff nach ihrer Hand, bekam sie jedoch nicht zu fassen.
»Ludmilla«, brüllte er unterdrückt. »Lass das. Wir müssen auf Eneas warten. Er wird uns bei dem Licht nicht so leicht sehen können.«
Sie spähte stumm in die Dunkelheit. Und da war es. Eine kleine Stichflamme stieg über dem Boden in die Luft und dann erhob sich das Wesen in die Luft. Flügelschlagen wie von einer Fledermaus, nur schwerer, und ein tierartiger Kopf, der sie mit glühenden Augen anstarrte. Daneben schob sich ein weiterer Kopf hervor, der ihr die Zunge rausstreckte, bevor das Wesen in der Dunkelheit verschwand.
Sie schlug sich die Hand vor den Mund. »Was war das?«, keuchte sie.
»Was?«, fragte Lando ungläubig, der mit einem Satz neben ihr stand.
»Hast du es nicht gesehen? Dieses Eichhörnchen, das fliegen kann und mehrere Köpfe hat.«
Er starrte sie verständnislos an, und bevor er reagieren konnte, rannte Ludmilla los. Sie folgte dem Wesen auf die Ebene, die sich hinter der kugelförmigen Landschaft erstreckte.
»Ludmilla«, hörte sie Landos Stimme hinter sich.
Sie blieb stehen und starrte in den Himmel, aber das Wesen war verschwunden. Nur Aiks Seufzen war dieses Mal nicht zu überhören.
Das kohlrabenschwarze kleine Wesen erhob sich schwerfällig in die Luft. Es musste sich erst einmal sammeln, bevor es seiner Erweckerin gegenübertrat. Seine Flügel waren nach der langen Ruhezeit etwas steif und gehorchten ihm nur langsam wieder. Immer höher erhob es sich in die Luft, machte ein paar kräftige Schläge und ließ sich treiben. Große Kreise zog es über die rotleuchtende Landschaft. Verkohlte und teilweise noch glühende Steinhügel, wohin das Auge reichte. An den Anblick würde es sich nie gewöhnen können. Auch wenn es in diesem Land zu Hause war. Verärgert entfuhr ihm eine Stichflamme. Wie konnte sie es wagen, ihn, den mächtigen Kobolddrachen Nouk, zu wecken? Und warum hatte er das Gefühl gehabt, dass sie von seiner Erscheinung überrascht gewesen war? Sie hatte ihn geweckt. Was hatte sie erwartet? Nun gut. Er war nicht besonders groß für einen Drachen. Vielleicht hatte sie sich einen riesenhaften Drachen gewünscht und war nun enttäuscht. Umso besser. Dann waren seine Chancen größer, dass sie ihn schneller aus ihren Diensten entließ.
Kobolddrachen mussten ihren Erweckern solange gehorchen, bis sie aus den Diensten entlassen oder zum Schlafen geschickt wurden. Dies galt für jede Form von Drachen in Eldrid. Kaum einer lebte ohne Herrn in dieser Welt, dazu waren sie viel zu gefürchtet und verliehen zusätzlich Macht. Denn nur sehr mächtige Wesen mit ebensolchen Schatten waren in der Lage, Drachen zu erwecken. Da es nicht viele davon gab, schützte dieses Prinzip diese mächtigen und gefährlichen Wesen vor dem Erwecken und Eldrid vor zu vielen Drachen.
Es war erst das vierte Mal, dass Nouk geweckt worden war. Für einen Drachen war er noch recht jung. Er erzitterte bei dem Gedanken an den Schatten des Wesens, der ihn dieses Mal geweckt hatte. Er hatte die Magie des Schattens gespürt. Sowohl der Schatten als auch seine Herrin waren außergewöhnlich mächtig. Nouk schüttelte angewidert den Kopf. Wie lange würde er nun seiner Erweckerin dienen müssen? Was für ein Wesen war sie? Wie viele Jahrhunderte würde es dauern, bis sie endlich starb und er frei war oder wieder schlafen konnte? Er selbst war unsterblich, hatte ewig Zeit, seine Geduld jedoch währte nicht ewig. Nouk konnte die Wesen des Lichts nicht ausstehen, und selbstverständlich diente er ihnen nicht gerne. Glücklicherweise hatte der Kobolddrache schon bei seinem ersten Erwecker einen Weg gefunden, wie er relativ schnell wieder zu seiner Ruhe finden konnte: Er war ihm auf die Nerven gegangen. Der Drache hatte sich tollpatschig und dickköpfig gegeben, und das auf eine sehr ausdauernde Art und Weise. Am Ende hatte sein Erwecker ihn schlafen geschickt, nur um seine Ruhe zu haben. Genauso würde er jetzt wieder vorgehen. Nouk schnitt eine abfällige Grimasse.
Unter ihm explodierte etwas. Erschrocken flatterte er heftig mit den Flügeln, um an Höhe zu gewinnen. Einer seiner Köpfe schickte einen Feuerschwall in die Richtung der Explosion. Der Kobolddrache schüttelte den Hauptkopf in der Mitte. So etwas Unsinniges. Im Land der Nuria explodierte ständig irgendetwas auf dem Boden. Das gehörte zu diesem Teil von Eldrid dazu, aber das hatte der Kopf, der Feuer spucken konnte, offenbar kurzweilig vergessen. Er hatte zu lange geschlafen, um sich an solche Nebensächlichkeiten zu erinnern. Die beiden Nebenköpfe machten zudem nicht immer das, was der Hauptkopf und Denker des Kobolddrachens wollte. Eine Eigenart an sich selbst, die Nouk nicht sehr schätzte. Er hätte es bevorzugt, wenn alle drei Köpfe ihm gehorchen würden.
Dann erblickte er etwas, das er noch nicht kannte. Ein riesiges Dorf voller schwarzer spitzer Zelte. Sie standen in Reih und Glied und erstreckten sich in Form eines Rechtecks über einen weiten Teil des Landes. Es waren unendlich viele Reihen, kaum zählbar, ebenso wie die Zelte. Wie symmetrisch angeordnet, ohne auch nur einen Fehler und ohne eine Mitte oder einen Platz, auf dem sich die Bewohner der Zelte hätten treffen können. Eine eher untypische Anordnung von Zelten eines Dorfes in Eldrid.
Ein Zucken durchzog den Körper. Er musste seine Erweckerin aufsuchen. Mehr Zeit verblieb ihm nicht. Der Drang, ihr zu dienen, wurde immer stärker. Sein Nebenkopf schnitt eine Grimasse nach der anderen und schüttelte sich unentwegt. Nouk drehte noch ein paar Runden über das verdorbene Land, erblickte in der Ferne ein paar Nuria, die über die Ebene ritten, als wäre der Teufel hinter ihnen her, und schoss ein paar Feuerstrahlen in die Tiefe. Das Feuerspucken war noch nie seine Stärke gewesen, und nach all den Jahren des Schlafens war er etwas eingerostet. Er wollte dem mächtigen Schatten imponieren, wenn er gleich vor ihn trat. Also drehte er noch ein letztes Looping, bevor er sich auf den Punkt konzentrierte, an dem er Ludmilla und ihren Begleiter witterte.
Siebtes Kapitel
Der Dena-Spiegel
Es war wie eine Sucht. Eine Sucht, die Margot Dena Jahrzehnte erfolgreich bekämpft und unterdrückt hatte, und dies, obwohl der Dena-Spiegel nie aufgehört hatte, sie zu rufen. In ihrem Kopf hallte seine Stimme ununterbrochen wider. Einem Zusammentreffen stand nun eigentlich nichts mehr im Wege, da niemand mehr im Haus war, der dies verhindern würde, aber sie traute sich nicht, ihm zu begegnen. Margot betrachtete ausgiebig die Tür, hinter der der Spiegel stand. Eine schmucklose weißlackierte Tür mit Kassetten, so wie es in alten Häusern oft üblich ist. Der kupferne Türgriff war blank poliert und glänzte matt. Oft saß sie ganze Tage davor, so dass sie sogar das Essen vergaß, aber was hatte sie schon zu tun, hier, in diesem Haus? Ihre Familie war längst ausgezogen, hatte sie sich selbst überlassen, und nur manchmal kam jemand vorbei und schaute nach dem Rechten. Eine Putzfrau, ein Gärtner, ein Nachbar. Keine dieser Personen kannte den wahren Grund für ihre Gefangenschaft. Es war niemandem je aufgefallen, dass sie schattenlos war. Wie auch? Welcher Mensch kam auf die Idee, auf den Schatten des anderen zu achten? Kein Erwachsener zumindest. Kinder dagegen schon eher, so dass ihre Familie bei Kindern stets vorsichtig gewesen war. Sie hatten es gemieden, dass Margot Kontakt mit ihnen hatte. Abgeschottet und versteckt fristete sie ihr Dasein in dem Haus ihrer Familie.
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