Nach dem feinen Break spazieren wir die Pradler Straße (nach dem ehemaligen Dorf Pradl) hinauf und das im doppelten Wortsinn. Denn die Straße steigt definitiv leicht an, auch wenn man es mit freiem Auge kaum sieht. Aber ich spüre es. Und so muss ich einmal tatsächlich stehenbleiben, damit sich mein überfordertes Bein wieder beruhigen kann. Mühsam. An der Kreuzung mit der Amraser Straße biegen wir links ab und gehen die 50 Meter vor bis zur Lindenstraße (früher standen hier viele Lindenbäume). Die verläuft parallel zur Pradler Straße, also geht sie dankenswerterweise leicht abwärts und ich muss nicht stehenbleiben. Bei der querenden Gumppstraße angekommen, gehen wir diese ein paar Meter in Richtung Osten und verfügen uns bald einmal links in die Gabelsbergerstraße (Erfinder der Stenografie, 1789–1849) hinein, die nach Norden führt.
Ganz am Ende der Gabelsbergerstraße hat Ilse jahrelang als Koch- und Werklehrerin unterrichtet – nomen est omen –, in der „Neuen Mittelschule Gabelsberger“. So weit sind wir aber noch nicht, denn zuerst müssen wir noch durchs sogenannte „Facken-Gassl“, welches fast jeder Innsbrucker kennt, das aber in keinem Stadtplan zu finden ist. Das schmale, an einem Bauernhof samt Stall (daher der Name) vorbeiführende Gässchen reicht von der Amthorstraße bis zur Egerdachstraße, ehe es in den nördlichen Teil der Gabelsbergerstraße übergeht. Aber wahrscheinlich heißt das „Facken-Gassl“ eh auch Gabelsbergerstraße, als Extra-Adresse rechne ich es jedenfalls nicht. Wir sind an der Schule angekommen, halten uns links und nach ein paar Metern auf der Reichenauer Straße finden wir uns in der Schmuckgasse (nach einer Tiroler Beamten- und Handelsfamilie) wieder. Die ist fast schneller absolviert als ein Eichhörnchen mit seinen Ohrhärchen wedeln kann, dafür folgt mit der Egerdachstraße (nach einem ehemaligen Heilbad) gleich die längste Straße bis jetzt. Wir starten beim alten Brunnen an der Ecke zur Pradler Straße und marschieren los.
Die Egerdachstraße hat zwei völlig unterschiedliche Charaktere aufzuweisen. Bis zur Kreuzung mit der Kravoglstraße/Klappholzstraße lässt sie sich ganz normal mit dem Auto befahren, dann biegt sie scharf nach rechts ab und verläuft als reiner Fuß- und Radweg bis vor zum Langen Weg. Das ist wirklich ein breiter Weg bis zum Langen Weg. Unter anderem kommen wir am Dotterbichl vorbei, wo ich als Kind manchmal mit der Rodel oder den Skiern runtergerutscht bin. Und es überrascht mich einigermaßen, dass der sich offenbar nicht in der Reichenau, sondern noch in Pradl befindet. Als alter Reichenauer wäre ich nie draufgekommen, denn für mich gehört der Dotterbichl genauso zur Reichenau wie der Sill-Zwickel – der übrigens in Wahrheit zum Saggen gehört, eventuell noch zum Pradler Saggen ... In unmittelbarer Nähe des Dotterbichls befindet sich der sogenannte Roßsprung. Genau hier hat im 15. Jahrhundert ein Edelknabe mit seinem Pferd einen Wassergraben übersprungen – mit einem 12 Meter weiten Satz! Die damals gesetzten Marksteine sind – nach ihrer Wiederentdeckung 1961 – heute noch zu sehen. Übrigens haben weder Pferd noch Reiter den Sprung überlebt, in die Geschichte Innsbrucks sind sie aber trotzdem (oder vielleicht sogar deswegen) eingegangen. Das Wunderpferd ist später ausgestopft und im Schloss Ambras ausgestellt worden, wo es heute noch in der dortigen Schatzkammer zu bewundern ist. Zumindest das ist dem waghalsigen Jockey erspart geblieben, auch wenn heute niemand mehr seinen Namen kennt.
Entlang der Egerdachstraße befinden sich zahlreiche Bänke, so kann ich mich immer wieder einmal ausrasten, denn schön langsam spüre ich die vielen Kilometer, zehn werden es bis jetzt wohl schon gewesen sein. Aber bald haben wir die erste Tagesetappe eh hinter uns.
Nach der Egerdachstraße geht Ilse schon mal nach Hause, wir wohnen ja um die Ecke. Ich begleite sie noch ein paar Meter und gehe dann von der Kranewitterstraße rechts in die Hans-Sachs-Straße (Meistersinger, 1494–1576). Bei etwas besserer Kondition könnte man diese kurze Straße auf einem Bein durchhüpfen, aber wer will das schon. Am Ende der Straße muss ich nur hundert Meter nach links die Dürerstraße entlang gehen, dann zweigt schon rechts und links die Schwindstraße (Maler, 1804–1871) ab. Zuerst gehe ich den kürzeren Teil in Richtung Norden, dort am Absatz kehrt gemacht und danach wieder hinauf zur Kranewitterstraße. Auch diesen Teil der Straße hüpfe ich nicht einbeinig durch, sondern bin im Gegenteil froh, dass sie so kurz ist. Denn sie geht eindeutig leicht aufwärts und das mag meine beleidigte linke Wade gar nicht. Jetzt bin ich bald daheim, aber am Weg dorthin nehme ich noch zwei Adressen mit. Als Erstes wird die Nordkettenstraße (Gebirgskette des Karwendels) abgehandelt, nach der unsere Siedlung benannt ist. Auch diese Straße steigt ganz leicht an, aber jetzt bin ich wohl schon ein bisschen überempfindlich. Jedenfalls bin ich froh, dass ich mit der östlich der Nordkettenstraße gelegenen und parallel verlaufenden Siegmairstraße (Kampfgenosse Andreas Hofers, 1775–1810) die letzte Adresse für heute vor mir habe. Mit schon ziemlich müden Schritten gehe ich an der Volksschule vorbei, die Ilse übrigens schon als Schülerin gekannt hat, so lange steht die Siegmair-Schule schon unverändert am selben Fleck. Und weil sie denkmalgeschützt ist, wird sie auch noch die nächste Zeit so stehen bleiben. Bis vor zwei, drei Jahren war hier auch ein Polytechnischer Lehrgang untergebracht, der glücklicherweise aufgelassen worden ist. Glücklicherweise deshalb, weil in der warmen Jahreszeit die Jugendlichen gleich im Dreißiger-Pack mit ihren Mopeds angeknattert gekommen sind – 99,9 Prozent der Fahrzeuge waren natürlich auffrisiert und dementsprechend nervtötend laut. Da mussten wir uns dann beim Frühstück manchmal in Zeichensprache unterhalten und das gleichzeitige Wegfahren dutzender Mopeds hat uns oft genug aus dem Mittagsschlaf gerissen. Ich sehe das ja, ganz tief in meinem Innersten, ohnehin nur als gerechte Strafe an. Denn als Teenager habe ich selber Löcher in den Auspuff meines Mofas gebohrt, damit es wenigstens nach irgendwas klingt. Jaja, Karma is a bitch …
Nach der Durchwanderung der Siegmairstraße komme ich zum vierten Mal zu einer Kreuzung mit der Kranewitterstraße, aber das war es dann für heute. Insgesamt kann ich nach meinem ersten Wandertag durch Innsbruck 21 Straßen bzw. Adressen als erledigt abhaken, 21 von über 650, das sind schon fast drei Prozent. Fehlen also eh nur mehr 97 Prozent …
Reim des Tages:
Mit meiner Ilse durch die Stadt zu wandern,
ist mir viel lieber als mit jeder andern …
Tag 2
Donnerstag, 12. März 2020
Erstaunlicherweise spüre ich kaum Nachwirkungen des gestrigen Wandertages, nur in meiner linken Wade macht sich ein ganz leichter Muskelkater bemerkbar. Es zieht nämlich ein bisschen.
Die Corona-Lage wird immer undurchsichtiger und dramatischer, in den unter Quarantäne stehenden Gebieten Italiens darf man nur noch dann spazieren gehen, wenn man einen Hund hat! Sonst muss man zu Hause bleiben, das Militär patrouilliert in Städten und Ortschaften. Bei uns in Österreich steigt die Zahl der Infizierten ebenfalls an, auch hierzulande werden weitere Maßnahmen erwogen. Mal schauen, wo das noch hinführt.
Wir starten heute direkt von daheim aus und als Erstes begeben wir uns ans Ende der Josef-Pöll-Straße (Komponist, 1874–1940), an der Ecke zur Siegmairstraße. Wir spazieren die Josef-Pöll-Straße stadteinwärts, also in Richtung Westen. Viel gibt sie nicht her, kein Geschäft, kein Lokal – beinahe würde ich meinen, die einzige Attraktion sind die Parkautomaten, weil sie im Dunkeln so schön grün leuchten. Aber die Josef-Pöll-Straße ist eine angenehme Wohngegend, hier fährt nur durch, wer hier auch was zu erledigen hat, also herrscht kaum Verkehr. Die Straße geht dann an der Kreuzung mit der Grenzstraße in die Petzoldstraße (Arbeiterdichter, 1882–1923) über und wenn es nach dem „Räumlichen Bezugssystem“ der Gemeinde Innsbruck geht, dann ist das hier die Grenze zwischen Amras und Pradl. Ist es aber nie und nimmer, für welchen Innsbrucker liegt die Siegmair-Schule bitteschön in Amras? Für mich liegt die Grenze zwischen Pradl und Amras in der Mitte der Amraser-See-Straße, aber ich habe ja schon eingangs erwähnt, dass es über die exakten Grenzen der einzelnen Stadtteile Innsbrucks immer schon rege Diskussionen gegeben hat. Die Stadt selber teilt in ihrem „Räumlichen Bezugssystem“ die Gemeinde in Katastralgemeinde, Statistischer Stadtteil und in Statistischer Bezirk ein. Jeweils mit unterschiedlichen Grenzverläufen. Um es noch einfacher zu machen, gibt es auch so etwas wie postalische Einteilungen und dann kommen noch die diversen Sprengel-Regelungen dazu und …
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