Wenn Adelaide in ihr Haus zurückkehrte, fand sie alles von unterst zu oberst gekehrt; aber es ließ sie gleichgültig. Ihr mangelte jeder praktische Sinn für das Leben; der genaue Wert der Dinge, die Notwendigkeit der Ordnung war ihr unbekannt.
Sie ließ ihre Kinder heranwachsen wie die Pflaumenbäume, die an den Heerstraßen wachsen, dem Regen und Sonnenschein gleichmäßig ausgesetzt. Sie trugen ihre Früchte als Wildling, die weder Säge noch Schere beschnitten. Nie wurde der Natur weniger entgegengearbeitet, nie wuchsen schlimm geartete Kinder freier nach ihren Trieben auf. Sie wälzten sich zwischen den Gemüsebeeten umher, verbrachten ihr Leben im Freien, spielten und balgten sich wie rechte Taugenichtse. Sie stahlen die Vorräte des Hauses, plünderten die wenigen Obstbäume des Gartens und waren – mit einem Worte – die lärmenden, zerstörenden Hausteufel dieser seltsamen Behausung des offenbaren Wahnsinns. Wenn ihre Mutter für ganze Tage verschwand, machten sie einen so heillosen Lärm und kamen auf so teuflische Einfälle, die Nachbarn zu belästigen, daß diese, um sich Ruhe zu schaffen, ihnen oft mit der Peitsche drohen mußten. Adelaide jagte ihnen übrigens keinen sonderlichen Schrecken ein; wenn sie da war, wurden sie den Nachbarn nur deshalb weniger unerträglich, weil sie die Mutter zur Zielscheibe ihrer Bosheiten wählten; sechsmal in der Woche schwänzten sie die Schule und taten alles was sie tun konnten, um sich eine Züchtigung zuzuziehen und dann nach Herzenslust zu plärren. Aber sie prügelte sie nie und erzürnte sich nie; inmitten all dieses Lärmens und Tollens lebte sie still und traumverloren dahin. Mit der Zeit wurde das abscheuliche Gepolter dieser Rangen ihr sogar zu einem Bedürfnis, um die Leere ihres Gehirnes auszufüllen. Wenn sie die Leute sagen hörte: »Ihre Kinder werden sie prügeln und es wird ihr recht geschehen« – lächelte sie sanft. Auf alle solche Bemerkungen schien ihre gleichgültige Haltung zu antworten: »Was liegt daran?« Um ihr Vermögen kümmerte sie sich noch weniger, als um ihre Kinder. Der Fouquesche Garten wäre während der langen Jahre dieses seltsamen Lebens zu einer Wüste geworden, wenn Adelaide nicht das Glück gehabt hätte, die Gemüsezucht einem geschickten Gärtner anzuvertrauen. Dieser Mensch, der den Ertrag des Gartens mit ihr teilen sollte, betrog sie in schändlicher Weise; aber sie merkte es nicht. Die Sache hatte übrigens auch ihre gute Seite; um sie besser übervorteilen zu können, nützte der Gärtner den Grund so viel wie möglich aus, wodurch der Wert des Besitztums erheblich gesteigert wurde.
Sei es, daß er durch einen geheimen Instinkt der wahren Sachlage inne wurde, sei es, daß die Art und Weise wie die Außenwelt ihn behandelte, ihm die Augen öffnete: Peter, der legitime Sohn, beherrschte von früher Jugend an seinen Bruder und seine Schwester. Gab es Streit, so prügelte er den Anton, obgleich er schwächer war als dieser. Ursula, ein armes, bleiches, schwächliches Wesen, ward von beiden mißhandelt. Bis zum Alter von 15-16 Jahren prügelten sich die drei Kinder übrigens ganz brüderlich, ohne sich ihren unbestimmten Haß zu erklären und ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, wie sehr sie einander fremd waren. Erst in diesem Alter standen sie einander in bewußter und bestimmter Gegnerschaft gegenüber.
Mit sechzehn Jahren war Anton ein langer Bursche, in welchem die Fehler Macquarts und Adelaidens schon – gleichsam verschmolzen – zutage traten. Doch war Macquart der Stärkere in ihm mit seinem Hang zum Herumstreifen, seiner Trunksucht, seiner Roheit und seinem Jähzorn. Allein unter dem nervösen Einflüsse Adelaidens mengten sich diese Laster, die bei dem Vater einen Zug heißblütigen Freimutes hatten, bei dem Sohne mit tückischer Heuchelei und Feigheit. Anton war seiner Mutter Sohn vermöge eines absoluten Mangels an achtbarem Willen, vermöge der Selbstsucht eines wollüstigen Weibes, einer Selbstsucht, die sie jedes Lotterbett annehmen ließ, wenn sie sich nur mit Behagen darin herumwälzen und warm schlafen konnte. Man sagte von ihm: Dieser Räuber hat nicht einmal den Mut zum Vagabundentum, wie der Macquart; wenn er jemals mordet, wird er es mit Stecknadeln tun.« Was sein Äußeres betrifft, hatte Anton von seiner Mutter nur die dicken, fleischigen Lippen; die anderen Züge hatte er von dem Schmuggler, aber gemildert, verjüngt, beweglich.
Bei Ursula waren im Gegenteil die sittlichen und körperlichen Eigenschaften der Mutter vorherrschend; immerhin fand sich auch bei ihr ein Gemengsel von Eigenschaften des Vaters und der Mutter, nur daß die arme Kleine, die als Zweite geboren war zu einer Zeit, als die leidenschaftliche Anhänglichkeit Adelaidens bereits die ruhiger gewordene Liebe Macquarts beherrschte, mit ihrem Geschlechte auch einen tieferen Eindruck des Gefühlslebens der Mutter empfangen zu haben schien. Es war übrigens hier keine Vereinigung zweier Naturen, sondern vielmehr eine Nebeneinanderstellung, eine seltsam oberflächliche Zusammenschweißung. Ursula war phantastischer Natur und zeigte zuweilen die Wildheit, die Schwermut, die Ausgelassenheit einer Zigeunerin; dann wieder – und dies war viel häufiger – lachte sie in nervösen Ausbrüchen, oder sie träumte selbstvergessen hin wie ein im Herzen wie im Kopfe tolles Weib. Ihre Augen, die manchmal den scheuen Blick Adelaidens zeigten, waren durchsichtig wie Kristall wie bei den jungen Kätzchen, die an der Schwindsucht zugrunde gehen.
Den beiden Bastardkindern gegenüber schien Peter ein Fremder zu sein. Wer nicht die Wurzeln seines Wesens prüfte, mußte finden, daß er von jenen ganz verschieden war. Noch niemals war ein Kind in dem Maße der wohl abgewogene Durchschnitt der zwei Geschöpfe, die ihn gezeugt hatten. Er hielt die richtige Mitte zwischen dem Bauer Rougon und dem nervösen Weib Adelaide. Seine Mutter hatte, indem sie ihn gebar, ein weniger plumpes Exemplar seines Vaters zur Welt gebracht. Die stille, verborgene Arbeit der Charaktere, die mit der Zeit ein Geschlecht verbessert oder zur Entartung treibt, schien mit Peter Rougon die erste Frucht gezeitigt zu haben. Auch er war nur ein Bauer, aber ein Bauer mit einer minder groben Haut und einem minder harten Gesicht, mit einem geschmeidigen, weiter ausgreifenden Verstände. Sein Vater und seine Mutter hatten sich in ihm wechselseitig verbessert. Hatte Adelaidens Natur, die der Aufruhr der Nerven sehr gefällig verfeinerte, die plumpe Schwerfälligkeit Rougons gedämpft und gemildert, so war anderseits die wuchtige Massigkeit des letzteren ein wirksames Hindernis gegen die körperliche Zerrüttung der jungen Frau. Peter kannte weder die Wutausbrüche, noch die krankhaften Träumereien der Wolfsjungen des Macquart. Sehr schlecht erzogen, geräuschvoll wie alle Kinder, die sich selbst überlassen bleiben, besaß er doch einen Bodensatz von Überlegung, der ihn stets abhielt, eine nutzlose Dummheit zu begehen. Sein Laster, sein Müßiggang, seine Genußsucht hatten nicht das instinktive Ungestüm der Laster Antons; er wollte sie vor aller Welt rechtschaffen pflegen und befriedigen. In seiner fetten, mittelgroßen Gestalt, in seinem langen, blassen Gesichte, wo die Züge des Vaters sich durch solche der Mutter verfeinert hatten, las man schon den tückischen Ehrgeiz, das unersättliche Bedürfnis nach Genuß, das kalte Herz und den neidvollen Haß des Bauernsohnes, den das Vermögen und die Nervosität der Mutter zu einem Bürger gemacht hatten.
Als Peter im Alter von siebzehn Jahren die unordentliche Lebensführung seiner Mutter und das eigenartige Verhältnis seiner Geschwister erfuhr und zu erfassen vermochte, war er weder betrübt noch entrüstet, aber er begann über die Haltung nachzudenken, welche er zur Wahrung seiner Interessen beobachten mußte. Von den drei Kindern hatte er allein mit einer gewissen Regelmäßigkeit die Schule besucht. Ein Bauer, der die Notwendigkeit des Unterrichtes einsieht, wird gewöhnlich ein schlauer Rechner. Die schmähliche Art und Weise, wie die Kinder in der Schule seinen Bruder Anton behandelten, erweckte den ersten Verdacht in ihm. Später erklärte er sich alle die seltsamen Blicke und Reden. Die wüste Wirtschaft im Hause öffnete ihm vollends die Augen. Von nun ab waren Anton und Ursula für ihn unverschämte Schmarotzer, Mäuler, die an seinem Gute zehrten. Seine Mutter beurteilte er genau so wie die übrige Bevölkerung der Vorstadt, d. h. wie ein Weib, das man einsperren müsse, das ihm schließlich sein Vermögen vergeude, wenn er dem nicht rechtzeitig vorbeuge. Was ihn vollends erbitterte, waren die Diebereien des Gemüsegärtners. Über Nacht wurde aus dem ausgelassenen Rangen ein sparsamer, habsüchtiger Bursche, der sehr schnell heranreifte bei dem Anblick der Luderwirtschaft, die er nicht ohne Abscheu länger mit ansehen konnte. Ihm gehörten die Gemüse, deren Erlös zum größten Teil in die Taschen des Gärtners floß; ihm gehörten der Wein und das Brot, das die Bastarde seiner Mutter tranken und aßen. Das ganze Haus, das ganze Vermögen gehörte ihm. Nach seinem Bauernverstande war er, der rechtmäßige Sohn, der alleinige Erbe. Da sein Hab und Gut vermindert wurde, da alle Welt gierig an seinem künftigen Vermögen zehrte, sann er nach Mitteln, alle diese Leute, Mutter, Geschwister, Dienstgesinde an die Luft zu setzen und unverzüglich sein Erbe anzutreten.
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