99Eine ganze Reihe von Fällen hat Isid. Geoffroy St. Hilaire mitgetheilt (Hist. des Anomalies, Tom. III, p. 437). Ein Kritiker (Journal of Anatomy and Physiology, 1871. p. 366) tadelt mich deshalb sehr, weil ich die zahlreichen in der Litteratur mitgetheilten Fälle von in ihrer Entwicklung gehemmten Organen nicht erörtert habe. Er sagt, daß meiner Theorie zufolge »jeder während der Entwicklung eines Organs durchlaufene Zustand nicht bloß Mittel zu einem Zwecke sei, sondern früher einmal selbst ein Zweck gewesen sei.« Dies scheint mir nicht nothwendig richtig zu sein. Warum sollen nicht während einer früheren Entwicklungsperiode Abänderungen auftreten können, welche zu Rückschlag in keiner Beziehung stehen? Und doch können solche Abänderungen erhalten und gehäuft werden, wenn sie von irgend welchem Nutzen sind, z. B. wenn sie den Entwicklungsverlauf abkürzen und vereinfachen. Warum sollen nicht ferner nachtheilige Abnormitäten, wie atrophierte oder hypertrophierte Theile, welche in keinem Bezug zu einem früheren Existenzzustande stehen, ebenso gut in einer früheren Entwicklungsperiode wie während der Reife auftreten können?
100Anatomy of Vertebrates. Vol. III. 1868, p. 323.
101Generelle Morphologie. 1866, Bd. II, p. CLV.
102 C. Vogt , Vorlesungen über den Menschen. 1863. Bd. I, p. 189, 190.
103 C. Carter Blake , On a jaw from La Naulette. Anthropolog. Review, 1867, p. 295. Schaaffhausen , ibid. 1868, p. 426.
104The Anatomy of Expression. 1844, p. 110, 131.
105Citiert von Prof. Canestrini in dem Annuario etc. 1867. p. 90.
106Diese Aufsätze verdienen sämmtlich von allen denen sorgfältig studiert zu werden, welche kennen zu lernen wünschen, wie häufig unsere Muskeln variieren und wie sie bei diesen Abweichungen denen der Quadrumanen ähnlich werden. Die folgenden Citate beziehen sich auf die wenigen oben im Texte mitgetheilten Punkte: Proceed. Royal Soc. Vol. XIV. 1865, p. 379–384. Vol. XV. 1866, p. 241, 242. Vol. XV. 1867, p. 544. Vol. XVI. 1868, p. 524. Ich will hier noch hinzufügen, daß Murie und St. George Mivart in ihrer Arbeit über die Lemuriden gezeigt haben, wie außerordentlich variabel einige Muskeln bei diesen Thieren, den niedersten Formen der Primaten, sind (Transact. Zoolog. Soc. Vol. VII. 1869, p. 96). Auch gradweise Abänderungen an den Muskeln, welche zu Bildungseigenthümlichkeiten führen, die noch niedriger stehenden Thieren eigen sind, finden sich zahlreich bei den Lemuriden.
107Prof. Macalister , in: Proceed. Roy. Irish Academy. Vol.X. 1868, p. 124.
108 Champneys , in: Journal of Anatomy and Physiology. Nov. 1871, p. 178.
109Journal of Anatomy and Physiology. May, 1872, p. 421.
110 Macalister (ebend. p. 121) hat seine Beobachtungen in Tabellen gebracht und findet, daß Muskelvarietäten am allerhäufigsten am Vorderarm sind, dann kommt das Gesicht, dann der Fuß u. s. w.
111Dr. Haugthon theilt einen merkwürdigen Fall von Abweichung am menschlichen Flexor pollicis longus mit (Proceed. Roy. Irish Academy, June 27., 1864, und fügt hinzu: »Dieses merkwürdige Beispiel zeigt, daß der Mensch zuweilen diejenige Anordnung der Sehnen des Daumens und der übrigen Finger besitzen kann, welche für den Macacus charakteristisch ist; ob man aber einen solchen Fall so beurtheilen solle, daß hier ein Macacus aufwärts in die menschliche Form, oder daß ein Mensch abwärts in die Macacus -Form übergehe, oder ob man darin ein angeborenes Naturspiel sehen darf, vermag ich nicht zu entscheiden«. Es gewährt wohl Genugthuung, von einem so tüchtigen Anatomen und einem so erbitterten Gegner des Evolutionismus auch nur die Möglichkeit erwähnen zu hören, daß einer der beiden ersten Annahmen zugestimmt werde. Auch Prof. Macalister hat (Proceed. Roy. Irish Academy, Vol. X. 1864, p. 138) Abweichungen am Flexor pollicis longus beschrieben, welche wegen ihrer Beziehungen zu den Muskeln der Quadrumanen merkwürdig sind.
112Seit der ersten Auflage dieses Buchs hat Mr. Wood in den Philos. Transact. 1870, p. 83 eine andere Abhandlung erscheinen lassen über die Muskelvarietäten am Halse, an der Schulter und der Brust des Menschen. Er weist hier nach, wie äußerst variabel diese Muskeln sind und wie oft und wie bedeutend die Abweichungen den normalen Muskeln der niedern Thiere ähneln. Er faßt es in der folgenden Weise zusammen: »Es wird für meinen Zweck genügen, wenn es mir gelungen ist, die wichtigsten Formen nachzuweisen, welche, sobald sie am menschlichen Körper als Varietäten auftreten, in einer hinreichend charakteristischen Weise das darbieten, was man in diesem Zweige der wissenschaftlichen Anatomie als Beweise und Beispiele für das Darwinsche Princip des Rückschlags oder das Gesetz der Vererbung betrachten kann.«
Correlatives Abändern . Beim Menschen stehen wie bei den niederen Thieren viele Bildungen in einer so intimen Beziehung zu einander, daß, wenn der eine Theil abweicht, ein anderer es gleichfalls thut, ohne daß wir in den meisten Fällen im Stande wären, irgend einen Grund beizubringen. Wir können nicht sagen, ob der eine Theil den andern beherrscht oder ob beide von irgend einem früher entwickelten Theile beherrscht werden. Wie Isid. Geoffroy wiederholt betont hat, sind in dieser Weise verschiedene Monstrositäten ganz eng mit einander verknüpft. Ganz besonders sind homologe Bildungen geneigt, gemeinsam abzuändern, wie wir es an den beiden Seiten des Körpers und an den oberen und unteren Gliedmaßen sehen. Meckel hat schon vor langer Zeit die Bemerkung gemacht, daß, wenn die Armmuskeln von ihrem eigentlichen Typus abweichen, sie fast immer die Verhältnisse der Muskeln des Beins wiederholen; und so umgekehrt mit den Beinmuskeln. Die Organe des Gesichts und Gehörs, die Zähne und Haare, die Farbe der Haut und der Haare, Farbe und Constitution stehen mehr oder weniger in Correlation. 113Professor Schaaffhausen hat zuerst die Aufmerksamkeit auf die Beziehung gelenkt, welche offenbar zwischen einem muskulösen Bau und den stark ausgesprochenen Oberaugenhöhlenleisten existiert, wie sie für die niederen Menschenrassen so charakteristisch sind.
Außer den Abänderungen, welche mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit unter die vorgenannte Kategorie gruppiert werden können, giebt es noch eine große Classe von Variationen, welche provisorisch als spontane bezeichnet werden können; in Folge unserer Unwissenheit scheinen sie nämlich ohne irgendwelche anregende Ursache zu entstehen. Es kann indeß gezeigt werden, daß derartige Abänderungen, mögen sie nun in unbedeutenden individuellen Verschiedenheiten oder in stark markierten und plötzlichen Abweichungen des Baues bestehen, viel mehr von der Constitution des Organismus abhängen als von der Natur der Bedingungen, welchen derselbe ausgesetzt war. 114
Verhältnis der Zunahme . – Man weiß, daß civilisierte Völker unter günstigen Bedingungen, wie in den Vereinigten Staaten, ihre Zahl in fünfundzwanzig Jahren verdoppeln, und nach einer Berechnung von Euler kann dies in wenig über zwölf Jahren eintreten. 115Nach dem ersterwähnten Verhältnis würde die jetzige Bevölkerung der Vereinigten Staaten, nämlich dreißig Millionen, in 657 Jahren die ganze Erdoberfläche, Wasser und Land, so dicht bevölkern, daß auf einem Quadratyard vier Menschen zu stehen haben würden. Das primäre und fundamentale Hindernis für die fortgesetzte Zunahme des Menschen ist die Schwierigkeit, Existenzmittel zu erlangen und mit Leichtigkeit leben zu können. Daß dies der Fall ist, können wir aus dem schließen, was wir z. B. in den Vereinigten Staaten sehen, wo die Existenz leicht und Raum für Viele vorhanden ist. Würden diese Mittel plötzlich in Groß-Britannien verdoppelt, so würde sich auch unsere Einwohnerzahl schnell verdoppeln. Bei civilisierten Nationen wirkt das oben erwähnte primäre Hindernis hauptsächlich durch das Erschweren der Heirathen. Auch ist das Sterblichkeitsverhältnis der Kinder in den ärmsten Classen von großer Bedeutung, ebenso die größere Sterblichkeit auf allen Altersstufen, in Folge verschiedener Krankheiten, bei den Bewohnern dicht bevölkerter und elender Häuser. Die Wirkungen schwerer Epidemien und Kriege werden bald bei Nationen ausgeglichen, welche unter günstigen Bedingungen leben, und sogar mehr als ausgeglichen. Auch kommt Auswanderung als ein zeitweises Hindernis der Zunahme in Betracht, aber bei den äußerst armen Classen in keiner großen Ausdehnung.
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