Inzwischen hatte das Meer eine wärmere Färbung angenommen. Die Stunden vergingen, Axel hätte schon längst da sein sollen. Und es gab nichts zu tun, außer Elis Angst zu machen. Warum war Axel nicht gekommen, was dachte er sich dabei, seinen Sohn so zu beunruhigen und einen ganzen Tag auf diese Art zu vermasseln! In Tom begann es zu kribbeln, überall, das war nicht zum Aushalten.
»Elis!«, schrie er. »Wo bist du! Komm kurz her!«
Elis kam und sah Tom mit gesenktem Kopf an.
»Hör mal«, begann Tom, »ich muss dir was sagen. Dieses Wetter, das ist nicht natürlich. Es braut sich zu einem Sturm zusammen.«
»Es ist ganz ruhig«, wandte Elis ein, offensichtlich misstrauisch.
»Das Auge des Sturms, typisch«, erklärte Tom. »Aber du kennst dich ja nicht mit dem Meer aus. So was kann ganz plötzlich kommen, päng, und schon schwappen die Wellen über die ganze Schäre.«
»Und was ist mit dem Leuchtturm?«
»Der ist abgeschlossen. In den kommen wir nicht rein.« Da er schon in Fahrt war, fuhr er fort: »Und nachts kommen die Schlangen …«
»Das erfindest du bloß.«
»Vielleicht erfinde ich es und vielleicht nicht. Und was ist dann das, was du selbst immer machst?«
Elis sagte langsam: »Du kannst mich nicht leiden.«
Das Schlimmste war, dass sie nichts zu tun hatten. Tom nahm das Fahrtenmesser und begab sich in den Windbruch, um Tannenreisig zu schneiden, Tannenreisig für eine Hütte, so wie er sie auf Ausflügen sonst immer für Oswald baute. Er schnitt und schnitzte und rackerte sich ab, und der Schweiß lief ihm über den Nacken und alles war eigentlich völlig unnötig, aber er ertrug es nicht, unablässig von Elis beobachtet zu werden, und es war schon fast Abend und das Boot war noch nicht gekommen … Und jetzt fragte Elis, ob das, was er da mache, Notsignale seien.
»Nein! Als ob wir Streichhölzer hätten!« Tom hievte die Dachkonstruktion hoch und rammte sie in das Tannengestrüpp. Das hier ist ja idiotisch, alles ist idiotisch, und das Boot, das nicht kommt … Vielleicht macht das Leuchtfeuer Schwierigkeiten – nein, dann hätte er sofort gewendet. Es muss etwas anderes sein, etwas Ernstes … Und plötzlich krachte das ganze Dach wieder herunter! Tom fuhr herum und rief heftig: »Du hast ja keine Ahnung, wie das ist, bevor ein Sturm ausbricht! Alles wird dunkel … Und man hört ein komisches Geräusch, das immer näher kommt – und die Vögel verstummen total …« Das hier ging unter die Haut, ganz offensichtlich. Er fuhr fort: »Manchmal steigt das Wasser vor einem Unwetter, aber manchmal sinkt es auch. Katastrophal ist das! Du hast ja gesehen, wie tief es gesunken ist! Überall nur grüner Schleim. Und wenn das Wasser dann wie eine Wand anrückt, kann sich niemand und nichts festhalten, gar nichts!«
»Warum tust du das?«, flüsterte Elis.
»Was meinst du?«
»Warum kannst du mich nicht leiden?«
»Und warum streitest du mit mir! Ich hab das alles jetzt satt, das macht keinen Spaß mehr! Leg dich irgendwo hin zum Schlafen!«
»Aber deine Schlangen! Ich hab Angst!«
»Schon gut, schon gut, es gibt keine Schlangen«, rief Tom ungeduldig aus, »auf so kleinen Schären gibt es die nie. Ich bin müde! Ich hab’s versucht, ich hab alles Mögliche versucht, aber das mit dir wird einfach nicht besser, du redest bloß komisches Zeug und bringst einen dazu, genauso komisch zu werden wie du selbst! Und mein Papa ist noch nicht da und dabei hätte er schon längst da sein müssen!«
»Ich hab Angst«, wiederholte Elis. »Tu was … du kannst doch einfach alles!« Plötzlich krallte er sich an Toms Pullover und wiederholte immer wieder, er habe Angst – »du hast mir Angst gemacht«, rief er, »tu was, irgendwas, du kannst doch alles!«
Tom befreite sich mit einem so heftigen Ruck, dass Elis nach hinten kippte, da saß er jetzt im Moos und guckte, und seine großen Augen waren zu engen Schlitzen geworden, und er sagte, langsam und sehr leise: »Na klar, dein Vater hätte schon längst da sein müssen. Warum ist er nicht gekommen? Bestimmt nicht, weil er uns nicht findet. Das hast du nur gesagt, um mir Angst zu machen. Ihm ist etwas zugestoßen.«
Elis wartete kurz und fuhr dann triumphierend fort: »Vielleicht hat er sich das Bein gebrochen und liegt jetzt irgendwo! Und wir warten und warten, aber er kommt nicht …«
»Dummes Geschwätz«, fuhr Tom ihn wütend an, »so was kann nur im Winter passieren, wenn die Felsen vereist sind.« Und plötzlich musste er daran denken, wie es gewesen war, als sie letzten Herbst gewartet hatten, damals, als sein Vater mit Oswald draußen bei den Leuchttürmen gewesen war und das Gas sich entzündet und ihm die Linse direkt ins Gesicht gesprengt hatte. Halb blind hatte er mit Hilfe Oswalds, der ihm laut weinend die Richtung ansagte, irgendwie nach Hause gefunden …
Elis redete in derselben Manier weiter und beobachtete dabei aufmerksam Toms Gesicht: »Bei euch daheim wissen sie nichts. Es ist schon spät am Abend. Schließlich begreifen sie, dass etwas passiert ist. Was sagst du dazu?«
»Du bist ein Schwächling, das sage ich!«, schrie Tom. »Du hast Angst! Du stinkst ja vor Feigheit …«
Auf einmal, blitzschnell, kam Elis auf die Beine und warf sich auf ihn. Tom sah die Zähne aufblitzen, zwei Reihen dichter kleiner Zähne zwischen den verzweifelt grinsenden Lippen, dann wurde er mit einem eisernen Griff um den Leib in rasender Wut umgeworfen. Sie rollten unter die geduckten Zwergtannen, dort war es bereits schummrig, sie mussten sich unter einer niedrigen Decke aus verschlungenem Astwerk prügeln – ha, du Ferienkind, du verfluchter Sommerkobold, lass bloß nicht los, dann weiß ich nämlich nicht, was ich dir antue, ich schlage und schlage, der magere knochige Körper unter ihm war zum Zerreißen angespannt, es war vollkommen klar, dass eine Niederlage für beide unmöglich war, ja, absolut unvorstellbar. Sie mussten weitermachen. Sie rangen in völligem Schweigen, lautlos, ohne ein einziges Keuchen. Endlich wälzte Tom seinen Gegner von sich, worauf sie auseinanderzuckten, aber ohne sich aufrichten zu können, weil kein Platz war, also krochen sie zurück und rangen weiter, was blieb ihnen anderes übrig.
Die Eiderente lag regungslos in ihrem Nest, sie hatte die gleiche Farbe wie der Boden. Als die beiden Kämpfer sie erblickten und sehr vorsichtig wieder aus dem Tannengestrüpp herauskrochen, aufstanden und auseinandergingen, blieb sie unverändert still liegen.
Die Nacht war gekommen. Am untersten Rand des Horizonts brannte der Westhimmel noch wie eine Rose, aber Nacht war es trotzdem. Tom lief ein Stück zum Ufer hinunter, wo Axel immer anzulegen pflegte, er zitterte heftig, sein ganzer Körper bebte, und er versuchte an gar nichts zu denken. Lass es ruhig bleiben, bitte sei so gut und lass es ruhig bleiben, einfach auf dem Felsen sitzen, die Knöchel fest an die Augen gepresst und es ruhig bleiben lassen. Ziemlich lange ging das gut, doch dann explodierte eine Erinnerung, und er ließ sie kommen und sie kam, damals, als das Gas im Leuchtturm explodiert war. Mama, die fragte: »Axel, was hast du gemacht, als das passiert war«? Papa, der antwortete: »Ich bin gekrochen, bis die Augen wieder ein bisschen sehen konnten, und hab Oswald irgendwie ins Boot gebracht und versucht, ihn zu beruhigen. Immerhin war kein Wind und das war gut. Man muss die Dinge so nehmen, wie sie kommen.« Das sagte er – man muss die Dinge so nehmen, wie sie kommen. Und dann sagte ich, Papa wird mit allem fertig und hat nie Angst, und da sagte Papa, du irrst dich. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie solche Angst gehabt. Genau so sagte er: Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie solche Angst gehabt.
Inzwischen erlosch der Westhimmel und machte dem Sonnenaufgang aus der anderen Richtung Platz. Es war schrecklich kalt. Als Tom in dem Dämmerlicht zurückkam, konnte er Elis nur als Silhouette vor dem Meer erkennen, er sagte: »Jetzt kommt er bald. Wahrscheinlich hat er etwas Wichtiges vorgehabt, etwas, das man nicht aufschieben kann.«
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