Elis war sehr aufgeregt, er klopfte immer wieder ans Barometer, weil er fürchtete, es könne Sturm geben, und erkundigte sich mehrmals nach den Leuchtturminseln, waren das tatsächlich richtige Inseln, also wirklich ganz kleine?
»Klein wie Fliegenschisse«, sagte Tom. »Und warum ist das so wichtig?«
Elis antwortete ernsthaft, er habe einmal eine Erzählung gelesen, die hieß ›Die Insel der Seligen‹, und diese Insel sei sehr klein gewesen.
»Aha«, versetzte Tom. »Komm jetzt, Papa wartet.«
»Auf ins Boot mit euch!«, rief Axel. »Jetzt fahren wir in den Urlaub und lassen alle Sorgen hinter uns!«
Alle vier Kinder saßen im Boot. Hanna stand auf dem Steg und winkte ihnen zum Abschied, als das Boot Fahrt aufnahm und hinaussteuerte. Es war ein strahlender, milder Tag, die hohen Haufenwolken spiegelten sich im Meer, und den Horizont gab es gar nicht. Elis hing an der Reling und hielt Ausschau nach Inseln, manchmal wandte er den Kopf und grinste Tom an, er sah tatsächlich aus, als würde es ihm ausnahmsweise einmal gutgehen.
Du nimmst dir also frei, du Mistkerl, dachte Tom, jetzt gerade hast du vergessen, dass die Welt untergehen wird, und interessierst dich nur für dich selbst.
Eine bittere Welle aus Gekränktheit stieg in ihm hoch, und er beschloss, auf der ganzen Fahrt hinaus und wieder zurück keine Spur von Interesse zu zeigen.
Der erste Leuchtturm war auf einer sehr niedrigen Schäre errichtet, auf deren Mitte sich ein windzerzauster Schopf aus Gestrüpp befand. Als sie anlegten, flogen Möwen hoch und kreisten schreiend über der Insel. Axel hievte die Reserveflaschen an Land und zog sie über den Felsen zum Leuchtturm hinauf.
Zuerst stand Elis nur da, steif wie ein Stock, und guckte, dann schoss er los und raste in das struppige Wäldchen hinauf und wieder herunter, die Eiderenten flatterten mit großem Getöse aus ihren Nestern, doch das merkte er kaum, er rannte hin und her, rief laut und warf sich schließlich der Länge nach ins Krähenbeerkraut.
»Der ist verrückt, das hab ich dir doch gesagt«, sagte Oswald verächtlich. »Und so einen lässt du von morgens bis abends hinter dir herrennen. Da hast du dir einen feinen Freund zugelegt.«
Tom ging langsam zu Elis hin, der ausgestreckt dalag, an den Himmel schaute und ganz unverschämt zufrieden wirkte.
Elis sagte: »Ich bin bisher noch nie auf einer richtigen Insel gewesen, auf einer, die wie eine Insel aussieht. Die hier ist so klein, dass sie mir selbst gehören könnte.«
»Was du daherredest«, sagte Tom. »Übrigens gehört sie auch den Eiderenten.« Damit ging er wieder.
Als Axel zurückkam, um zum nächsten Leuchtfeuer weiterzufahren, wollte Elis nicht mitkommen. »Ich bleibe hier«, teilte er mit. »Diese Insel gefällt mir.«
»Aber wir bleiben vielleicht mehrere Stunden weg«, wandte Axel ein. »Wie müssen zu Leuchttürmen, die weit draußen liegen. Und dort ist es viel schöner, hohe Felsen und alles Mögliche, was dir gefallen könnte.«
»Das macht nichts«, sagte Elis. »Ihr könnt ruhig fahren. Ich bleibe hier.«
Es war unmöglich, den Jungen auf andere Gedanken zu bringen. Schließlich nahm Axel Tom ein wenig beiseite und sagte: »Am besten, du bleibst bei ihm, bis ich zurückkomme und euch wieder einsammle. Sonst fällt er uns womöglich ins Wasser oder stellt sonst was Verrücktes an, und immerhin haben wir die Verantwortung für den Jungen.«
Die kleine Mia rief: »Ich will jetzt zum nächsten Leuchtturm, ich will jetzt zum nächsten Leuchtturm!«
»Aber Papa«, protestierte Tom. »Ich kann doch nicht stundenlang mit ihm auf diesem kümmerlichen Felsen hocken!«
»Klar kannst du das«, antwortete sein Vater und stieß ab.
»Manchmal muss man sich mit Dingen abfinden, die nicht unbedingt lustig sind.«
»Such ihm doch ein paar alte verfaulte Vögel!«, schrie Oswald übers Wasser. »Bist ja sein Kindermädchen!«
Erst beim nächsten Leuchtturm fiel es Axel ein, dass er den Jungen keinen Proviant dagelassen hatte. So etwas hätte Hanna nie vergessen – aber Himmel noch mal, solange nichts Schlimmeres passiert war.
Eine Stunde später passierte tatsächlich etwas: Die Benzinleitung ging ab, und so was lässt sich nicht im Handumdrehen reparieren.
»Weißt du was«, sagte Elis, seine Stimme klang fast andächtig.
»Diese Insel ist wunderbar. Sie liegt so weit weg, dass nichts Gefährliches herkommen kann. Und das Wasser ist ganz sauber.«
»Glaubst du, ja«, versetzte Tom, er ging weiter hinaus auf den Felsvorsprung und begann Steinchen ins Wasser zu werfen. Es gab absolut nichts zu tun, außer zu warten und die Zeit sinn- und nutzlos verstreichen zu lassen. Ha, was für eine wunderbare Insel der Seligen. Oh nein! Finstere Gedanken zogen auf, verschwanden und kehrten wieder; ein ganzer Sommer überschattet von ständiger Betrübnis und Bewachung, nie richtig allein sein zu dürfen, und dazu endlose idiotische Beerdigungen und Abfallhaufen … Und als ob die täglichen Sorgen nicht genug wären, bekam man gleich die der zukünftigen Tage dazu serviert, wo alles viel, viel schlimmer werden würde, das war einfach nicht gerecht!
Und jetzt kam Elis mit weit aufgerissenen Augen angerannt und rief: »Eine Insel, vergessen im Weltmeer! Fantastisch! Hier ist es so sauber. Hier ist es so verlassen und leer!«
»Fantastisch kannst du selber sein«, sagte Tom. »Und allzu leer kommt es mir nicht vor, wenn man bedenkt, was für ein Eiderjahr wir dieses Jahr haben.« Mit einem Schulterzucken fügte er hinzu: »Allerdings werden wohl nicht allzu viele flügge werden, wenn man bedenkt, wie du hier herumgetrampelt bist!«
»Wie meinst du das?«
»Naja, ich meine bloß, wenn man eine brütende Eiderente aufschreckt, kehrt sie nicht wieder ins Nest zurück. Eiderenten sind sehr empfindliche Vögel.«
Elis sagte nichts. Es war ziemlich komisch, ihn dabei zu beobachten, wie er jetzt durchs Krähenbeerreisig stakste, ein langsamer Schritt nach dem andern, die Ellbogen dicht am Körper und den mageren Hals vorgeschoben. Jetzt konnte er mal selbst erleben, wie es ist, wenn jemand einem ein schlechtes Gewissen macht. Tom lief hinter ihm her. Bald darauf blieb Elis stehen und starrte in ein Nest mit fünf Jungen, sie waren sehr klein und dunkelflauschig und verhielten sich regungslos.
»Was wird jetzt aus ihnen?«, flüsterte er.
»Na, darüber brauchst du nicht nachzudenken. Du sollst nur daran denken, dass du auf »einer Insel, vergessen im Weltmeer« bist, war es nicht so? Vielleicht wird es dich interessieren, dass eine Schäre wie diese hier tatsächlich vergessen werden kann. Es ist sehr schwierig, wieder hierherzufinden.«
Elis sah ihn nur an.
»Du glaubst mir nicht? Aber so was ist schon vorgekommen.« Tom setzte sich hin und stützte den Kopf in die Hand. »Ich will dir ja keine Angst machen«, fuhr er fort, »aber an manchen Ufern hat man schon Skelette gefunden. Da kann man nichts machen, am besten man vergisst es einfach. Aber trotzdem, stell dir vor, wie die dasaßen und gewartet und gewartet haben und niemand ist gekommen.«
»Aber dein Vater hat ja eine Seekarte dabei«, wandte Elis ein.
»Hat er das? Wenn ich es mir jetzt überlege, ist die Seekarte daheim liegen geblieben … Oje, das ist gar nicht gut.« Tom seufzte und warf Elis durch die Finger einen hastigen Blick zu, am liebsten hätte er laut gelacht. Hier hast du deine Katastrophen. Und ich hab noch üblere auf Lager, wart’s nur ab.
Elis setzte sich hinter einen großen Stein. Und die Sonne wanderte weiter gen Nachmittag, die Kriebelmücken sangen und die Seevögel kehrten friedlich zu ihren Nestern zurück.
Als Tom hungrig wurde, kam ihm eine gute Idee, er stöberte Elis auf und teilte mit, jetzt sei es schlimm um sie bestellt, sie hätten nichts zu essen – genau wie all die bedauernswerten Menschen überall auf der Welt. »Du kannst natürlich Krähenbeeren essen«, sagte er, »nur kriegt man davon manchmal schrecklich Bauchweh. Falls du Durst hast, ist direkt hinter dir eine Wasserlache, aber die ist wahrscheinlich salzig und so abgestanden, dass sogar die Asseln darin gestorben sind.« Er setzte noch eins drauf: »Dann musst du ihre Leichen eben zwischen den Zähnen durchsieben«, begriff aber sofort, dass dies eine unvorsichtige Übertreibung war, damit war er zu persönlich und stillos geworden. Elis betrachtete ihn lange und durchdringend, dann wandte er sich ab.
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